Sind Belarusen Mittäter bei der russischen Militäraggression?
Der belarusische Schriftsteller Andrej Schwaleuski, der auch jetzt in Belarus lebt, schrieb einen Artikel über die Situation der belarusischen Nation während der Invasion Russlands in die Ukraine vom Territorium ihres Landes aus. Er sieht die Ukrainer, die Bürger der demokratischen Welt und die Belarusen selbst als Adressaten seiner Stellungnahme. Wir veröffentlichen den Artikel in gekürzter Form.
Wenn jetzt die ganze Welt auf die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine vom belarusischen Territorium aus blickt, fallen oft Worte wie „Komplizen der Aggression“. Und diese Anschuldigungen werden nicht nur gegen Lukaschenko und seine Untergebenen erhoben, sondern ganz allgemein – alle Belarus*innen seien schuld, weil sie nicht auf der Seite der Ukraine kämpfen.
Die Ukraine braucht konkrete Hilfe. Ihnen kann ich nur sagen: „Wir tun unser Möglichstes“. Wir gehen auf die Straße, um zu protestieren, was wir seit über einem Jahr nicht mehr getan haben. Wir gehen ins Gefängnis: 800 Menschen wurden festgenommen, was 3.500 in der gesamten Ukraine entsprechen würde. Unsere Partisanen sind nicht untätig. Bis jetzt ist es ein Tropfen auf den heißen Stein, aber… Und schon wieder fange ich an, mich zu entschuldigen. Ich sollte damit aufhören. Die Ukraine hat keine Zeit für Ausreden. Ich bitte nur, mir zu glauben – wir tun, was wir können. Ja, wir können wenig tun, aber es ist nicht unsere Schuld, es ist unser Unglück.
Warum dass ein Unglück ist, muss einer anderen Lesergruppe, denjenigen, die in einer echten Demokratie aufgewachsen sind, erklärt werden. Oder für diejenigen, die so daran gewöhnt sind, dass sie es wirklich nicht verstehen: „Warum setzt ihr nicht euren Lukaschenko ab?“
Eine Bekannte, die in die USA ausgewandert ist, erzählte einmal, wie amerikanische Studenten Stalins Repressionen studieren. „Was ist das für ein Unsinn?“ Sie sind entrüstet. „Warum haben sie das zugelassen? Warum gingen sie in ein Konzentrationslager? Wenn man mich in ein Konzentrationslager geschickt hätte, wäre ich nie gegangen!“ (Das ist wirklich kein Witz, sondern eine echte Aussage). Die jetzige Empörung klingt in den Ohren eines Belarusen auch so ähnlich. Sie denken immer, wir übertreiben, wenn wir vom „Konzentrationslager“ sprechen.
Nein, tun wir nicht.
Denken Sie immer daran, liebe Demokratiefreunde, dass ich in einem Land lebe, in dem auf 9,5 Millionen Einwohner über 1.000 politische Gefangene kommen. In Deutschland hätte es bei gleichem Repressionsgrad fast 9.000 politische Gefangene gegeben. In den Vereinigten Staaten wären es 34.000. Denken Sie daran, dass Belarus ein Land ist, in dem überhaupt keine Gesetze gelten. Der Generalstaatsanwalt brüstete sich in seinem Neujahrsbericht damit, dass im Jahr 2021 1.600 Personen in „politischen“ Fällen verurteilt wurden und kein einziger Prozess mit einem Freispruch endete.
Warum rede ich von 1.000 politischen Gefangenen und der Staatsanwalt von 1.600? Unsere Menschenrechtler*innen, von denen einige selbst hinter Gittern sitzen, sind sehr pingelig, wenn es darum geht, eine Person zum politischen Gefangenen zu erklären. Zu pingelig, wenn Sie mich fragen. Kurzum, liebe von der Demokratie verwöhnte Menschen, jedes Mal, wenn ihr sagt: „Warum tun die Belarus*innen nicht…“, hören wir: „Ich würde ja nicht in ein Konzentrationslager gehen“.
Und nun zu einer Leserschaft, die am heftigsten auf die „Kollektivschuld von Belarus“ reagiert. Ja, ich rede von uns, Belarusen. Feinde haben bereits verstanden, dass „Kollektivschuld“ genutzt werden kann, um einen Keil zwischen Ukrainern und Belarusen zu treiben. Unter echten Kommentaren tauchen zunehmend Bots auf, die auf einem Punkt rumreiten: Belarusen hätte die Ukraine verraten, Belarusen seien Aggressoren, Belarusen seien Abschaum. Es ist leicht, einen Bot zu erkennen: Er hat in der Regel einen leeren Account und nur andere Bots als Freunde. Während es sich lohnt, sich bei echten Ukrainern zu entschuldigen und zu versprechen, etwas zu tun, wird bei Bots kurzer Prozess gemacht – sich beschweren und blockieren.
Aber woran sind wir nun schuld? Das ist eine wirklich wichtige Frage. Wir haben Schuldgefühle, das tun wir. Aber wenn wir beschuldigt werden, nicht mit bloßen Händen gegen die OMON-Polizisten zu kämpfen, sind wir ziemlich ratlos. Wir sind erstaunt, aber nicht verärgert. Das heißt, nicht daran sind wir schuld.
Woran dann?
Ich gestehe, ich habe mich einer gründlichen Gewissensprüfung unterzogen. Ich dachte zurück an verschiedene Epochen der belarusischen Geschichte und schaute, ob ich versuchte, die Phasen zu überspringen, die mir unangenehm waren. Mitte der 1990-er Jahre ist für mich so eine äußerst unangenehme Zeit. Zuerst gewann Lukaschenko die Wahlen, danach zerstörte er alle demokratischen Institutionen, riss alle Macht an sich und begann, einen Polizeistaat aufzubauen.
Wie die überwiegende Mehrheit der Belarus*innen damals, habe ich nur genörgelt. Ich erzählte Witze. Anfangs versuchte ich noch, bei allen möglichen Volksabstimmungen dagegen zu stimmen, später bin ich gar nicht mehr zu den Wahlen gegangen. Ich verspottete die Opposition. Überhaupt sah ich mit Gleichgültigkeit zu, wie um mich herum ein Zaun und Türme mit Maschinengewehren errichtet wurden.
Das ist meine wahre Schuld. Ich denke, Menschen meines Alters ode älter verstehen das insgeheim auch, trauen sich aber nicht, es zuzugeben. Oder sie trauen sich doch. Das ist nicht mehr wichtig. Wichtig ist, dass die Vergangenheit nicht geändert werden kann. Aber es lassen sich daraus Lehren für die Zukunft ziehen. Es ist jedoch noch zu früh, darüber zu reden. Jetzt ist die Aufgabe eine andere – die Diktatur zu besiegen, die riesige Unterdrückungsmaschinerie zu überwinden, zu der mittlerweile nicht nur die Polizei, der KGB und andere Straforgane gehören, sondern auch diejenigen, die theoretisch vor Willkür schützen sollten – die Staatsanwaltschaft, die Gerichte, sogar die Anwälte. Und das bei völliger Auslöschung von zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Das bedeutet aber nicht, dass das Problem nicht gelöst werden kann. Alles kann gelöst werden, wenn man daran arbeitet. Und wenn man nur schluchzt und flucht, werden alle Kräfte nur dafür verschwendet. Jeder soll zu Taten übergehen. In diesem Augenblick.
Ruhm der Ukraine!
Es lebe Belarus!