Folter und Gewalt im Jahr 2020 – die Geschichte von Iwan
„Bringen wir ihn in den Wald oder machen wir ihn zu einem Behinderten?“ Als Antwort folgte: „Keine Zeit, wir machen ihn zum Behinderten!“
Iwan hat noch während des Wahlkampfes seine politische Haltung zum Ausdruck gebracht. Er nahm auch an den Aktionen im August teil, die für ihn gut ausgingen, aber am 25. Oktober wurde er auf dem Rückweg von einer anderen Kundgebung festgenommen. Eine Stunde lang wurde er von zwölf Menschen verprügelt. Zum Glück überlebte er, kurierte sich lange von seinen Verletzungen aus und will nun Gerechtigkeit einfordern. Auch nachdem er das Land verlassen hat, schreibt er weiterhin Beschwerden an belarusische Sicherheits- und Rechtspflegebehörden und internationale Organisationen.
Angriff, Transporter, Schläge
Für Iwan begann die Geschichte noch im Mai 2020, als ein Freund ihm anbot, ihm beim Sammeln von Unterschriften für Swetlana Tichanowskaja zu helfen. Iwan war der Koordinator für den Bezirk Maskouski in Minsk und verteilte zusammen mit Swetlana Flugblätter. Alles war ruhig – keine Zwischenfälle oder Provokationen. Und im August, als die Wahlergebnisse bekannt wurden, ging Iwan zu allen Kundgebungen. Er war immer im Brennpunkt der Ereignisse: Vor ihm überfuhr ein Polizeitransporter den Fuß eines Demonstranten; er war ein paar hundert Meter vom Ort entfernt, wo Taraikouski ermordet wurde; er rannte selbst vor Schüssen davon. Im Herbst war Iwan weiterhin aktiv.
– Am 25. Oktober gingen mein Freund und ich zu der Demonstration, wo wir auf Chorowez trafen (Journalist des staatlichen Rundfunks BT, befindet sich in der Datenbank des Volkstribunals – Anm. August2020). Wir sind gut erzogene Menschen mit Universitätsabschlüssen, wir haben ihn gegrüßt, sogar ein wenig mit ihm gesprochen und ihn vor der Gefahr gewarnt. Er wollte den Anfang der Kolonne finden und wir führten ihn dorthin. Nach einer Weile sahen wir, dass sich eine Menschenmenge um ihn versammelt hatte. Bei einem Marsch sind Tausende verschiedener Menschen dabei, es geht um Tausende verschiedener Emotionen. Uns war klar, dass der Journalist jetzt verletzt werden könnte, also versuchten wir, den Druck der Leute einzudämmen. Ja, er mag bei BT Lügen und Negativität verbreiten, aber er ist immer noch ein Mensch und sollte mit anderen Mitteln bestraft werden.
Es herrschte totales Chaos, und die Freunde selbst wurden fast zu Provokateuren erklärt. Der Journalist konnte fliehen. Der Vorfall schien vorbei zu sein. Aber im Nachhinein stellte sich raus, nicht ganz.
Gegen 17 Uhr spaltete sich die Kolonne auf und die Freunde gingen zu ihrem Auto, versteckten ihre Fahnen. Sie wollten Eiskreme und Wasser holen. Auf dem Rückweg vom Laden wurden sie von einem Transporter abgeschnitten.
– So etwas haben wir nicht erwartet. Wir gehen da ruhig zu zweit entlang, die Kundgebung war schon lange vorbei. Und dann rennen sie auf uns zu. Mein Freund konnte wegrennen, und ich, während ich über die Straße rannte, ließ meine Autoschlüssel fallen. Bin stehengeblieben und wollte sie aufheben. Ja, so eine Leichtsinnigkeit habe ich mir erlaubt. Ich stolperte in der Nähe der Dabrabyt-Bank und die Einsatzkräfte schnappten mich, nahmen mich unter die Arme und schleppten mich weg.
Ich sagte mehrmals zu ihnen, dass ich keinen Widerstand leiste, damit sie mich nicht wegen Widerstands anklagen könnten. Aber kann man überhaupt mit diesen Leuten sprechen?! Einer von ihnen fing an, mir in den Bauch zu treten. Sie führten mich in den Transporter, und dort empfing man mich mit den Worten: „Dreckstück, du bist am Arsch!“. Sie warfen mich zu Boden und begannen, mich mit den Füßen und einem Stock zu treten. Nicht aus Gummi, sondern aus Eisen. Vor den Schlägen hörte ich, wie sie sich gegenseitig fragten: „Bringen wir ihn in den Wald oder machen wir ihn zu einem Behinderten?“ Als Antwort folgte: „Keine Zeit, wir machen ihn zum Behinderten!“
– Ich war der einzige, der in diesem Transporter festgehalten wurde. Und wissen Sie, man kann eine Person auf verschiedene Arten schlagen, man kann sie auch wie ein Schwein schlachten. Erst später, als ich in einem Krankenhausbett lag, kam die Nachricht vom Tod Raman Bandarenkas – das genau die gleiche Situation, wie bei mir, sie haben ihn auch im Transporter bestraft. Wenn man nicht allein dort ist und es Zeugen gibt, es ist für sie schwierig, etwas total Schlimmes anzustellen. Aber wenn man allein ist und auf deren Seite sind es 12 Leute, kann man Sicherheit vergessen. Ich hätte auch nicht überleben können. Als ich später ein paar Monate lang im Bett lag, um mich zu erholen, erinnerte ich mich an viele Dinge und begriff einiges.
Sie führten mich in den Transporter, und dort empfing man mich mit den Worten: „Dreckstück, du bist am Arsch!“ Sie warfen mich zu Boden und begannen, mich mit den Füßen und einem eisernen Stock zu treten
Iwan ist ein junger Mann, der körperlich und geistig vorbereitet ist. 2008 machte er seinen Abschluss mit einem Diplom in Sportunterricht. Dann leistete er seinen Wehrdienst ab und studierte an der Fakultät für Justiz- und Strafvollzug der Akademie des Innenministeriums. Er hat auch in einer Sportkolonie als Offizier gearbeitet, als Gruppenführer. Aber bereits 2010 kündigte er den Job aus eigenem Willen, unter anderem wegen der Ereignisse im Land (auch in dem Jahr gab es Präsidentschaftswahlen und Proteste).
– Alle, die mit Gefangenen arbeiten, werden darin geschult, wie sie mit Unruhen, Geiselnahme von Personal und anderen Situationen umgehen sollen. Im Transporter waren diese Kenntnisse sehr nützlich, ich habe mich gut schützen können: die Beine unter mir, das Kinn an die Brust, die Arme an den Kopf. In der Embryo-Position – bitte, schlagt gerne zu. Das dauerte ungefähr 5 bis 10 Minuten. Es war erträglich, aber einer der Einsatzkräfte merkte, dass ihre Schläge wirkungslos waren, also fesselte er meine Hände mit Kabelbindern. Sich zu verdecken wurde fast unmöglich, und ich wurde etwa eine Stunde lang in dieser Position geschlagen.
Iwan erinnert sich, wie er gefoltert wurde. Sie schalteten die Kamera ein und stellten immer wieder die gleiche Frage: „Hast du den BT-Journalisten geschlagen?“ Iwan antwortete: „Nein!“ Die Frage wurde etwa fünfmal wiederholt, aber es gelang ihnen nicht, die gewollte Aussage mit Gewalt zu bekommen. Dann „fanden“ sie einen Mann, der den Reporter angeblich geschlagen hatte, und er wurde für drei Jahre ins Gefängnis gesteckt.
– Ich erinnere mich, dass sie sich ständig abwechselten – sie wurden müde davon, mich zu schlagen. Ich wurde regelmäßig ohnmächtig, die Schläge trafen genau auf meinen Kopf. Aus Angst, sie könnten mir den Schädel einschlagen, kroch ich wie eine Raupe am Boden entlang und versteckte meinen Kopf unter einem Sitz. Und da gingen die Lichter endgültig aus. Vielleicht hat mich das auf eine gewisse Art und Weise gerettet. Sie warfen mich in der Nähe des Polizeireviers des Bezirks Sowjetskij raus und sagten: „Es ist dein zweiter Geburtstag“.
Zweiter Geburtstag, Polizeirevier des Bezirks Sowjetskij, Polizeitransporter
Die Polizeibeamten klopften Iwan auf die Wangen, bespritzten ihn mit Wasser und versuchten, ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen. Aber er kam immer nur kurz zu sich und wurde dann wieder ohnmächtig. Zwei Stunden später wachte Iwan auf. Er hatte Schwierigkeiten zu verstehen, was passierte. Er erinnert sich nur daran, die Worte „zieh die Schnürsenkel aus“ gehört zu haben, und dass jemand mit seiner Hand etwas unterschrieben hatte. Drei weitere Stunden vergingen und Iwan wurde klar, dass er auf dem Polizeirevier war. Dor hat man ihn nicht mehr geschlagen (dafür könnte man sich fast bedanken), aber sein Körper schmerzte und brannte fürchterlich, und er konnte nicht mehr selbständig gehen. So wurde Iwan unter den Armen von einem Wächter zum anderen geschleift.
– Ich stöhnte nur und konnte nicht verstehen, wo es weh tat und was gebrochen war. Aber selbst in diesem Zustand habe ich der Anklage nach Artikel 23.34 nicht zugestimmt, weil dort als Adresse stand: „bei der Stele, Pobeditelej-Straße 28“. Welche Stele, verdammt nochmal? Lügen. Wenn man dort einfach geschrieben hätte, dass ich teilgenommen hatte, hätte ich wahrscheinlich in diesem Zustand zugestimmt. Und so schrieb ich: „Ich stimme nicht zu“. Damit war die Sache auf dem Polizeirevier beendet.
Neben dem Transporter zeigte einer der Polizisten auf mich und fragte: „Was ist mit dem hier?“ Jemand antwortete ihm: „Der hier wurde von einem Schlagstock gebissen!“ Und sie fingen an zu lachen
Man brachte mich zum Polizeitransporter, um mich nach Akreszina zu fahren. Der Fahrer war ein junger Mann, den ich fragte: „Warum wurde ich so verprügelt?“ Er antwortete: „Ich bin neu hier, ich weiß überhaupt nicht, was hier los ist“. Klasse! Neben dem Transporter zeigte einer der Polizisten auf mich und fragte: „Was ist mit dem hier?“ Jemand antwortete ihm: „Der hier wurde von einem Schlagstock gebissen!“ Und sie fingen an zu lachen. Sie steckten mich in diesen Kokon, diese sogenannte „Becherzelle“ im Transporter.
Als er in den Transporter stieg, bemerkte Iwan die weiß-rot-weiße Flagge auf dem Boden. Er trat vorsichtig um sie herum und setzte sich halb seitwärts in die Zelle, denn er ist ein großer Kerl. Aber man setzte noch einen Mann zu ihm.
– Er war geschminkt, schick angezogen, etwa 19 Jahre alt, und ich saß da mit meiner Glatze und meinem Bart. Wir fuhren ein Stück von der Polizeistation weg und hielten an. Die Show begann, sie drückten mich mit dem Gesicht auf die Fahne auf dem Boden und sagten: „Na, ihr Oppositionisten, (und mich nannten sie „Bart“), ihr liebt also eure Fahne?“ In diesem Kokon gab es nur ein kleines Luftloch, durch das kaum eine Faust passt. Ich bin kein Raucher und der junge Mann, der mit mir saß, auch nicht, aber der Wächter blies uns den Rauch direkt in die Zelle. Es gab keine Luft zum Atmen und es war eng und dunkel. Der Wächter ruft die ganze Zeit: „Nicht schlafen!“ Es war, als würde man sich einen Topf auf den Kopf setzen und darauf klopfen, genauso ein Gefühl. Es ist vor allem psychologisch schwierig, man muss sich davon abstrahieren können.
Der Transporter mit den Gefangenen stand etwa zwei Stunden lang, bevor er Akreszina erreichte. Iwan wurden sechs Jahre Gefängnis angedroht. Die Wächter versuchten auch, sich an Iwans Nachbarn ranzumachen, ihm die Haare zu schneiden (seltsamerweise hatten sie eine batteriebetriebene Maschine dabei). Iwan konnte es nicht mehr ertragen und sagte: „Will du dich lustig machen, die Haare schneiden? Lass uns meinen Bart schneiden, lass den Kleinen in Ruhe!“ Die Wächter verstummten und schlossen ihre Zelle. Später, in Akreszina, hat dieser junge Mann übrigens Iwan sehr geholfen.
Akreszina, unerträgliche Schmerzen, Gericht
– Als wir endlich angekommen waren, forderte mich die Ärztin auf, mich auszuziehen. Als ich das tat, rief sie zwei weitere Kollegen dazu. Sie untersuchten mich mit großem Och und Ach. Und ich dachte: Ist es wirklich so schlimm? Was sehen sie da, das so beängstigend ist? Sie gaben mir einen Haufen Tabletten und sagten: „Wenn es wirklich schlimm wird, ruf uns!“ Das war seltsam: Ich fühle mich so schon schlecht genug, und ich weiß nicht, was sie mit „wirklich“ meinten. Aber nach den Tabletten fühlte ich mich etwas besser, ich habe sogar etwa zwei Stunden lang geschlafen.
Aber am Morgen konnte ich nicht mehr aufstehen. Wir wurden gezwungen, aufzustehen, aber ich fiel immer wieder um. Wenn ich mich an eine Wand lehnte, konnte ich 20 Minuten durchhalten. Das Problem lag in meiner Wirbelsäule – stechender Schmerz, wenn ich mich in die falsche Richtung drehte oder falsch stand. Die Ärztin reichte mir wieder eine Handvoll Pillen und ging erst wieder, als sie sich sicher war, dass ich alle eingenommen hatte. Übrigens waren auch die Jungs in der Zelle schockiert über meinen Rücken: „Das sind Kampfstiefel, kannst du dir das vorstellen? Du hast auf dem Rücken einen Stiefelabdruck, wie im Schnee“. Vielleicht hatten diese Einsatzkräfte Kampfstiefel mit Stacheln, ich hatte rote Punkte auf dem Rücken.
„Die Ärztin begann die Untersuchung und drückte mit zwei Fingern auf seine Wirbelsäule – da knickten Iwans Beine ein. “
Um 12 Uhr fand die Gerichtsverhandlung statt, oder besser gesagt, eine Parodie einer Verhandlung. Zwei nicht identifizierte Männer schleiften Iwan in den Raum, in dem das Gespräch via Skype stattfand. Iwan dachte bis zur letzten Minute, dass es sich um ein Interview handelte und merkte erst am Ende, dass man jetzt so verurteilt wird. Es waren noch zwei weitere „Zeugen“ im Raum. Der Richter begann, den Polizeibericht zu analysieren, in dem die falsche Adresse für Iwans Festnahme angegeben war. Trotz seiner Einwände log einer der Zeugen weiter und behauptete, er habe Iwan an der angegebenen (falschen) Adresse gesehen. Der Richter ignorierte den Vorschlag, die Kameraaufzeichnungen zu nehmen und nachzusehen, wo die Festnahme stattgefunden hatte. Die „Verhandlung“ dauerte etwa 20 Minuten – Iwan wurde zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt.
– Man brachte mich zurück in meine Zelle, und gegen vier Uhr abends wurde mir wirklich sehr schlecht und ich hatte solche Schmerzen, dass ich begann, ohnmächtig zu werden. Mein Zellengenosse (der Typ aus der „Becherzelle“) fing an, gegen die Tür zu hämmern, und auch die anderen Jungs verlangten nach einem Krankenwagen. Ein anderer Arzt kam und sie brachten mich hinaus in den Korridor. Nachdem er mich untersucht hatte, rief er: „Holt den Aufseher!“ Jemand von der Verwaltung kam herein und ich stand da und hörte im bewusstlosen Zustand ihrem Dialog zu:
– Ich übernehme keine Verantwortung, machen Sie mit ihm, was Sie wollen!
– Was ist denn so schlimm hier?
– Er hat zu 100 % ein geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma.
Der Arzt sah mich wieder an und fragte mich, wann ich das letzte Mal uriniert hatte. Ich hatte irgendeine Suppe zum Mittagessen und das war’s. Auf die Toilette bin ich nicht gegangen und ich hätte es auch kaum gekonnt. Man gab mir eine leere Flasche und schickte mich in die Zelle. Zwei Stunden vergingen, aber ich konnte immer noch nicht pinkeln.
Iwan wurde wieder aus seiner Zelle geholt und in eine Einzelzelle gegenüber vom Büro der Ärztin gesetzt. Sie gab ihm wieder einen Haufen Pillen, wodurch er sich besser fühlte. Es war bereits 22 Uhr und gegen Mitternacht wurde Iwan erneut entkleidet, um untersucht zu werden. Die Ärztin war übrigens nicht überrascht, aber der Wachmann, ein junger Bursche, war betroffen, offenbar ein Neuling. Die Ärztin begann die Untersuchung und drückte mit zwei Fingern auf seine Wirbelsäule – da knickten Iwans Beine ein. Aber er wurde nicht mehr ohnmächtig und konnte sogar auf einem Bein stehen. Aber bei einer falschen Bewegung kam ein scharfer, unerträglicher Schmerz. Die Ärztin empfahl ihm, sich hinzulegen und zu schlafen. Am Morgen fühlte sich Iwan „gut“, verglichen mit seinem Zustand auf der Polizeiwache zum Beispiel.
– Wissen Sie, es gibt verschiedene Stadien von „Fleisch“. Das erste, wenn man überhaupt nichts begreift, war auf dem Polizeirevier. Das zweite Stadium – ich nenne es mal „halbes Fleisch“. Und das dritte ist, wenn man denken und die Schmerzen ertragen kann, obwohl man immer wieder mit starkem Schwindelgefühl umfällt. Aber ich hatte auch noch Lebensmittelvergiftung von dieser Suppe, und zu all meinen Symptomen kam noch Durchfall hinzu. Ich war blass wie der Tod. Mein Magen drehte sich so stark um, dass ich mich bis heute an diese Suppe erinnere (er lacht).
Am Morgen kam die Ärztin in die Zelle und als sie Iwans Zustand sah, fluchte sie und rief einen Krankenwagen. Es kamen zwei junge Frauen. Als sie Iwan sahen, zitterten bei einer von ihnen die Hände und die andere fing an zu weinen. Iwan wurde umgehend einem Kardiogramm unterzogen. Sie fingen an, sich mit der Ärztin der Anstalt zu streiten, und hinterfragten, wie man eine Person in so einem Zustand in Haft behalten kann. Die Ärztin wies die Angriffe zurück: „Nehmt ihn doch mit, glaubt ihr, ich hab das nötig?“
„Die Ärzte waren auf unserer Seite, glaube ich. Sie waren schockiert von dem, was geschah, sie mussten praktisch „Fleischstücke“ aus der Justizvollzugsanstalt abholen.“
– Die Ärzte waren auf unserer Seite, glaube ich. Sie waren schockiert von dem, was geschah, sie mussten praktisch „Fleischstücke“ aus der Justizvollzugsanstalt abholen. Das ist doch nicht normal. Wir sprachen mit dem Arzt:
– Deine Verletzungen sind krimineller Natur. Ob du willst oder nicht, ich mache Fotos. Ich bin verpflichtet, diese Fotos an die Behörden zu schicken.
– Tun Sie, was Sie für richtig halten.
– Hör mal, es klingt vielleicht schrecklich, aber insgesamt ist alles normal. Zwei Fortsätze sind gebrochen, aber sie sind nicht komplett abgebrochen, du brauchst keine Operation, man muss nur alles ruhigstellen und in zwei Monaten wirst du wieder laufen können. Die Prellungen werden heilen, die Gehirnerschütterung wird heilen, das Schädel-Hirn-Trauma wird nach zwei Wochen Bettruhe heilen. Ich rate dir nicht, hier zu bleiben, und ich kann dich entlassen, denn sie können kommen und dich zurückholen.
Genauso setzte man es um. Iwan lag mehrere Monate lang zu Hause. Erst gegen Ende Januar erholte er sich ein wenig und kam wieder zu sich. Aber er hatte nicht vergessen, was passiert war, und hat sich schriftlich an das Ermittlungskomitee gewandt, um eine Untersuchung wegen schwerer Körperverletzung zu veranlassen.
– Niemand hat mich belästigt, aber dafür fing ich an, sie zu belästigen. Am Telefon sagte man mir, dass die Ermittlungen abgeschlossen seien und kein Strafverfahren eingeleitet worden sei, weil kein Tatbestand vorliege. Auf die Frage, woher meine Verletzungen stammen, antwortete natürlich niemand. Man sagte lediglich, dass die Beamten der Sicherheits- und Rechtspflegebehörden in bestimmten Situationen körperliche Gewalt anwenden dürfen. Ich fragte: „Das waren Beamte der Sicherheits- und Rechtspflegebehörden?“ Und bekam eine wortgewandte Antwort von ihnen: „Wissen wir nicht“.
Übrigens habe ich einen der Mitarbeiter erkannt, die mich im Transporter verprügelt hatten. Es war Aljaxandr Jefimenka, ein Mitarbeiter der Hauptdirektion zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption (GUBOPiK). Ich kannte ihn früher, aber er erkannte mich nicht wieder und ich erkannte ihn auch nicht. Wir sahen uns vor etwa 15 Jahren. Er hat eine spezifische Art und Weise beim Sprechen und als ich seine Stimme hörte, schoss es mir durch den Kopf – ich kenne ihn, aber ich kann mich nicht erinnern, woher. Danach hatte ich ein paar Monate Zeit, wo ich mich ausruhen und nachdenken konnte. Und aus den Kommentaren von Bekannten erkannte ich ihn wieder, es stellte sich heraus, dass er für die Polizei arbeitete.
„Übrigens habe ich einen der Mitarbeiter erkannt, die mich im Transporter verprügelt hatten. Ich kannte ihn früher…“
– Ich reichte erneut eine Anzeige ein, man begann eine neue Ermittlung. Am 20. Dezember wurde ich darüber informiert, dass die Ermittlung in diesem Fall verlängert wurde. Ich rief am 23. Dezember an, Kazjaryna Andryanowna Asarka (die Ermittlerin in meinem Fall) sagte, dass es keine Antwort zum gerichtsmedizinischen Gutachten gäbe. Aber ich weiß doch, dass es schon am 18. November durchgeführt wurde. Die Feiertage vergingen, und Mitte Januar machte ich einen Termin mit dem Leiter der Forensik-Abteilung. Warum denn nicht? Die Chefin antwortete, dass sie mein Gutachten am 23. Dezember an das Ermittlungskomitee geschickt hatte. Ich habe die Ermittlerin Asarka noch einmal angerufen, aber sie war im Urlaub. Naja, passiert. Die anderen Ermittler wussten nichts und sagten nichts. Erst Mitte Februar konnte ich sie wieder telefonisch erreichen. „Was wollen Sie denn? Wir haben Ihnen eine Antwort an Ihre Adresse geschickt!“ , sagte sie. Aber es kam nichts.
Und später erfuhr ich vom Anwalt, dass der Fall bereits am 30. Dezember abgeschlossen wurde, wie man so schön sagt, ins neue Jahr ohne Altfälle. Als ich mich mit dem Material vertraut machen wollte, erhielt ich Drohungen, ich wurde dreimal zum Ermittlungskomitee zu einem anderen Ermittler vorgeladen, um irgendwelche unklare Fragen zu beantworten und Telegram-Kanäle überprüfen zu lassen. Und das letzte Mal, als ich bei dieser Frau Asarka war, hat sie mir offen gedroht: „Wenn du dich nicht beruhigst, werden wir dich einsperren! Wir haben alle die Nase voll von dir. Das war’s! Verlassen Sie mein Büro, raus!“
Ich habe ihr einfach ins Gesicht gelacht.
Iwan ist jetzt in Polen. Vor etwa einer Woche hat er von dort aus per Einschreiben einen Antrag an den Obersten Gerichtshof geschickt. Nun wartet er auf das Ergebnis.
– Ehrlich gesagt wollte ich Belarus bis zum Schluss nicht verlassen. Sowohl die Organisation „Nasch Dom“ als auch Wolha Karatsch (belarusische Journalistin, Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, Politikerin. – Anm. August2020) sagten mir, dass ich so schnell wie möglich das Land verlassen soll, aber ich wollte unbedingt die Wahrheit wissen. Im Januar reichte ich eine Klage bei der UNO ein, während Wolha Karatsch dies bei einem deutschen Gericht tat. Der Punkt ist, dass sie meine Daten nicht verheimlichen dürfen. Sie sind verpflichtet, den Betroffenen mitzuteilen, was ihnen vorgeworfen wird und von wem. Und wir beschuldigen den Staat, Folter angewandt zu haben. Auch wenn ich hier offen spiele, trotzdem. Wenn man auf dem Spielfeld des Gegners spielt und er dir irgendetwas antun muss, wird er das tun.
Iwan schrieb den Konsul in kürzester Zeit an, fügte ein paar Dokumente bei und bekam schnell ein humanitäres Visum für die ganze Familie. Besonders bemerkenswert ist Iwans Bericht darüber, wie sie als Familie zum Grenzübergang gereist sind. Vor der Abreise prüfte er auf der Website des Innenministeriums, ob er ausreisen durfte. Alle Unterlagen waren in Ordnung, aber die Familie mit einem kleinen Kind musste sechs Stunden lang an der Grenze warten. Man hat sie mit Fragen gelöchert: Wohin fahren Sie? Warum? Wer hat Ihnen geholfen? Dann machte ein anderer Vernehmer weiter: Was gefällt Ihnen nicht? Warum reisen Sie aus? Haben Sie Ihre Wohnung verkauft? Dann wurde das Auto gründlich durchsucht. Sie haben alles durchwühlt, sogar die Hosen- und Jackentaschen.
– Einer der Mitarbeiter flüsterte leise in mein Ohr: „Wir glauben, wir können, wir werden gewinnen! [Losung der belarusischen demokratischen Bewegung – Anm. d. Übers.] Man hat uns angewiesen, dich zu durchsuchen. Wir warten auf einen Anruf, sagen, dass wir alles überprüft haben, und gegen Mittag kannst du über die Grenze fahren. Verstehst du, wir werden durch Kameras beobachtet“. Nach einer Weile bekamen sie tatsächlich einen Anruf und wir konnten endlich durch.
Iwan hat kürzlich seinen Anwalt hingeschickt, um sich das Urteil anzusehen. Darin heißt es, dass er in der Storoschewskaja-Straße 8 verhaftet wurde, wobei die Beamten angeblich seine rechtswidrigen Handlungen vereitelt haben sollen. Der Clou ist, dass Iwan in jeder Berufung genau diese Adresse angegeben hat, die Adresse seiner tatsächlichen Festnahme. Aber im Protokoll der Festnahme und der Zeugenbefragung wurde doch die Adresse Pobeditelej-Straße 28 angegeben, und als Begründung, dass er den Spruch „Es lebe Belarus“ gerufen habe. Weder auf dem Polizeirevier noch beim Gericht wurden Iwans Aussagen und Argumente akzeptiert, und nun bestätigt das Ermittlungskomitee selbst, dass seine Festnahme an einer anderen Adresse stattfand. Entweder hat der Ermittler die Überprüfung falsch durchgeführt, oder er hat sie richtig durchgeführt, aber dann waren die Mitarbeiter des Bezirkspolizeipräsidiums die Dummköpfe, die einen Meineid geleistet haben. Sie hatten sich selbst in eine Ecke gedrängt.
– Wenn man die Wahrheit sagt, ist es einfacher, zu leben und zu atmen. Und sie sind verlogen. Was wird der Oberste Gerichtshof nun entscheiden? Ich habe auch internationalen Schutz beantragt, aber da gibt es Nuancen. Wenn die Dinge im Land so weitergehen, werde ich fünf bis sieben Jahre lang nicht zurückkehren können, und meine Eltern sind schon alt. Es zerreißt mir die Seele beim Gedanken, dass wenn etwas passiert, ich nicht einmal in der Lage sein werde, sie zu beerdigen. Aber ich hoffe und glaube, dass alles gut werden wird.
„Nichtstun konnte ich eben nicht. Meiner Familie war klar, dass man mich einsperrt hätte, wenn wir geblieben wären“
– Mir wurde klar, dass ich mich vorerst nicht in Belarus aufhalten konnte. Ich sah mich ehrlich im Spiegel an und erkannte, dass es nichts für mich war, an den Aktionen teilzunehmen und irgendetwas Körperliches zu tun. Glauben Sie, ich wüsste nicht, dass der Papierkram nutzlos ist? Aber erstens ist es ein Ausdruck des Willens, und zweitens wird es zumindest in einigen Archiven für unsere Nachkommen erhalten bleiben. Nichtstun konnte ich eben nicht. Meiner Familie war klar, dass man mich einsperrt hätte, wenn wir geblieben wären. Ein Freund von mir, ein Schlagzeuger, der bei den Märschen trommelte, bekam sechs Jahre Haft. Seine Freiheit zu verlieren, das kann man immer noch tun. Nach dem Transporter wurde mir klar, dass man nur ein Leben hat, heute ist man da, aber morgen nicht mehr. Und wie viele Menschen werden vermisst… Also lebe ich mit dieser Erkenntnis, dass es solche Transporter gibt, in denen Dreckskerle durch die Gegend fahren. Ich weiß nicht, wie sie sich motivieren oder überhaupt rechtfertigen.
Wir konnten nicht drum herumkommen, Iwan nach seinem seelischen und psychischen Zustand zu fragen.
– Wissen Sie, ich komme selbst aus einem schlechten Viertel, ich war in viele Schlägereien verwickelt. Ich habe kein seelisches Trauma und auch keinen Groll. Natürlich bin ich traurig, dass das passiert ist, aber ich bin Gott für diese Situation dankbar, denn ich habe viele Dinge überdacht. Ich war übrigens noch nie in Europa. Und jetzt habe ich hier sogar meine sportlichen Aktivitäten wieder aufgenommen. In Belarus hatte ich mein eigenes Geschäft, ein ziemlich gutes (produzierte Holzkohle für Kebab-Häuser und Cafés und war auch in der Spedition tätig). Ich hatte eine Menge zu verlieren. Schließlich war dort alles aufgebaut, man konnte sich entwickeln, leben, das Kind großziehen. Ich musste alles aufgeben, jetzt werde ich als Taxifahrer in Polen arbeiten. Aber so ist es eben gekommen, das eine neue Phase in meinem Leben.
P.S. Hat sich an das Ermittlungskomitee gewandt. Der Fall wurde mangels Tatbestand wieder eingestellt. Die Verletzungen wurden aufgezeichnet.
Autor: August2020 Projektteam
Foto: August2020 Projektteam