Folter und Gewalt im Jahr 2020 – die Geschichte von Ihar
28 Jahre alt, Freelancer. „Ich beschloss für mich, dass ich lieber rausgehe und einen Schlag auf den Kopf bekomme, als mich später dafür zu schämen, dass ich zu Hause gesessen habe“
Wenn Ihar (Name geändert) im Voraus gewusst hätte, dass nach seiner ersten Festnahme ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet werden würde, wäre er trotzdem auf die Straße gegangen. Der Mann wurde bei einer der Sonntagsdemonstrationen festgenommen. Im Vergleich zu den Geschichten von August bezeichnet Ihar seine Geschichte als „light“, außer dass seine Knie ihn immer noch belasten, wenn er eine Zeit lang in gebückter Haltung verbringt. Aber beim Thema Menschenrechte gibt es nichts, was man als „light“ bezeichnen kann: Warum sollte ein Mensch grundlos 13 Tage seines Lebens in Akreszina verlieren?
– Mir war klar, dass auf jeden Fall jemand protestieren gehen würde. Und ich hatte lange für mich beschlossen, dass ich lieber rausgehe und einen Schlag auf den Kopf bekomme, als mich später dafür zu schämen, dass ich zu Hause gesessen habe. Aber mir war nicht klar, dass so viele Menschen hier gegen die ganze Sache sind. Schade, jetzt sind die Risiken einfach kosmisch geworden und es ist nicht klar, wie es weitergeht. Aber ich glaube, dass alles gut werden wird.
Ihar sah Minsk im August auf verschiedene Art und Weisen. Voller Explosionen, Schüsse, Fluchten und auch voller Menschen. Ihar wurde bei einer der Sonntagsdemonstrationen im Stadtzentrum festgenommen. An einem gewissen Punkt lief die Menschenkolonne auf eine Absperrung der Einsatzkräfte zu. Ein Teil der Menschenmenge wollte ausweichen und bewegte sich durch die Höfe und Parkplätze. Ihar ging mit.
– Als die Sicherheitskräfte sahen, dass die Menschen hinter ihren Rücken gingen, begannen sie, die benachbarte Straße abzusperren. Einige Leute kamen sehr nah an sie dran. Mir wurde klar, dass man hier nichts tun sollte, also begannen die Jungs und ich wegzugehen. In diesem Moment löste sich die Reihe der Einsatzkräfte und vier, vielleicht fünf Minibusse fuhren mit hoher Geschwindigkeit in die Menge. Alle verstreuten sich schnell. Auf der einen Seite war eine Reihe von Einsatzkräften, auf der anderen ein Zaun und auf der hinteren Seite ein hohes Geländer. Panik brach aus. Aus den Minibussen stiegen Einsatzkräfte und begannen, alle zu packen. Zuerst vor allem die, die Flaggen dabei hatten. Ich hatte eine Flagge um meinen Hals gebunden. Ich war einer der ersten, die gefasst wurden. Ich versuchte, mich irgendwie zur Seite zu ducken, wurde aber sofort ins Gesicht getroffen, war verwirrt. In der Schwalben-Position und im Laufschritt wurde Ihar zum Bus gebracht.
– Ich glaube, vor dem Bus trat man mir mit dem Knie in die Brust und dann warf man mich innen auf den Boden. Man redete grob mit mir, benutzte Schimpfwörter. Sie befahlen mir, mich auf die Knie zwischen den Sitzen hinzulegen, Kopf nach unten, Hände hinter den Kopf. Ich gehorchte. Und als ich das tat, schlug mir der Minibusfahrer mindestens dreimal mit einem Knüppel oder einem anderen Gegenstand hart auf den Rücken und schrie: „Warum zum Teufel sitzt du nicht zu Hause!“ Er forderte mich auf, mein Handy zu übergeben, ich gab es ihm. Und wortwörtlich zehn Sekunden später – ich sah es nicht, aber ich hörte es – wurden Menschen reingeworfen: Frauen, Männer. Viele baten darum, nicht geschlagen zu werden – ich hörte dumpfe Schläge. Ich wurde nicht mehr geschlagen, aber es wurden Leute auf mich geworfen. Sie saßen also auf mir.
„Auf den Knien stehen war eine echte Qual. Meine Knie machen mir immer noch zu schaffen und es ist unwahrscheinlich, dass sie wieder verheilen werden“
Unterwegs nahm Ihar sein weißes Armband ab, auf das er zu Hause einen roten Streifen gemalt hatte, und ließ es auf dem Boden liegen. Was aus seiner Flagge geworden ist, weiß er nicht. Als der Bus voll war, wurden die Leute irgendwo hingebracht. Nur zehn Minuten später kam der Umstieg in den Polizeitransporter.
– Man durfte den Kopf nicht heben, sonst wurden man geschlagen. Als sie mich herausführten, sah ich eine Reihe von Menschen in verschiedenen Uniformen und in Zivil. Ich habe überhaupt niemanden von der Miliz gesehen. Dort trugen alle Masken. So schafften sie einen Korridor und führten Leute mit Hinterntritten da durch.
Die fensterlose, als „Becher“ bezeichnete Zelle im Polizeitransporter war für eine Person gedacht, aber zusätzliche zu Ihar steckte man einen älteren und jüngeren Mann dazu, Vater und Sohn. Es gab natürlich nicht viel Luft, aber es war erträglich. Die nächste Station war das Bezirkspolizeipräsidium. Das fanden die Menschen erst später heraus – unterwegs hielt es natürlich niemand für notwendig, ihnen zu sagen, wohin sie gebracht wurden.
– Die Menschen wurden hinausgeführt und aufgefordert, ihren Namen, Nachnamen, Arbeitsplatz und den Lebensgefährten anzugeben. Mich führte man später auch heraus. Noch im Transporter selbst stand ein Mann mit einer kleinen Kamera, die wie eine GoPro-Actionkamera aussah.
Menschen sortierten Menschen
Im Hof wurden die Häftlinge erneut von zwei Reihen von Einsatzkräften begrüßt – in Polizeiuniform, aber mehr von ihnen waren in Zivil: „Dorthin laufen! Nicht hinschauen!“ Die Gefangenen wurden in eine Garage gebracht, die einem Hangar ähnelte.
– Die Menschen dort standen auf den Knien, die Stirn auf den Beton gestützt, die Hände hinter dem Rücken. Man zeigte mir meinen Platz und forderte mich auf, das Gleiche zu tun. Und alle Sachen aus meinen Taschen daneben hinlegen. Ich habe seit meiner Kindheit Probleme mit meinen Knien. Und das Stehen in dieser Position war wirklich eine Qual. Meine Knie machen mir immer noch zu schaffen und es ist unwahrscheinlich, dass sie wieder verheilen werden.
Ihar hob seinen Kopf nicht, versuchte nicht, sich umzusehen. Denn diejenigen, die aufschauten und Fragen stellten, wurden verprügelt. Der junge Mann sah keine Mädchen in dieser kniender Position. Er vermutet, dass sie nicht weit entfernt auf Stühle gesetzt wurden.
– Der Typ neben mir stöhnte etwa 20 Minuten lang. Schließlich kam jemand auf ihn zu an und er erklärte, dass er einen Wirbelsäulenbruch habe und dass es für ihn sehr schmerzhaft sei, in dieser Position zu stehen. Man erlaubte es ihm, die Position zu ändern. Ich hörte eine Menge sehr unangenehmer Dinge. Dieser eine Vater zum Beispiel, mit dem ich in der Zelle unterwegs war, erhielt eine harsche moralische Warnung: „Warum zum Teufel hast du deinen Sohn mitgenommen? Du hast vielleicht nichts zu verlieren, aber warum verdirbst du dann sein Leben? Ihr werdet jetzt alle neun Jahre im Gefängnis bekommen. Was für ein Mistkerl du bist…“ und so weiter. Jedes zweite Wort war ein Schimpfwort, selbst wenn diese Personen miteinander redeten. Das Gespräch lief darauf hinaus, dass man ein unwürdiger und schlechter Mensch sei, dass man bereits so viel getan hätte, dass einem eine hohe Strafe drohe, und dass man nichts dagegen tun könne, es würde nur noch schlimmer werden, also solle man es ertragen, schweigen und leiden.
„Jedes zweite Wort war ein Schimpfwort, selbst wenn diese Personen miteinander redeten“
So saß bzw. lag Ihar etwa eine Stunde lang auf dem Beton. Gleichzeitig sortierten die Einsatzkräfte (Ihar konnte deutlich erkennen, dass es sich um Mitarbeiter der Hauptdirektion zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption, die Spezialeinheit OMON und Polizeibeamte handelte) die Menschen aus. Die Befehle wurden von der Hauptdirektion zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption (GUBOPiK) erteilt.
– Sie stellten die Gefangenen in mehrere Reihen auf. Und je nachdem, in welcher Reihe man stand, hatte man ein anderes Schicksal. Ich wurde am Genick hochgehoben. Zwei Männer in Zivil und mit Masken sahen mich an. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass einer von ihnen derjenige war, der die Fenster des O’Petit Cafés eingeschlagen hatte. Meine Augen trafen die ihren und er sagte: „Ja, das ist er, ich erkenne ihn an seinem T-Shirt“. Und ich wurde in eine separate Reihe geworfen, in der nur drei Leute waren.
An diesem Punkt mussten man aus dem Stapel der „beschlagnahmten“ Handys sein eigenes heraussuchen. Ihar beschloss zu sagen, dass seins nicht da war.
– Ich kniete noch eine Viertelstunde lang, dann befahl jemand dem Polizisten, mich zum Verhör mitzunehmen. Er hob mich hoch und fing an, mich ziemlich aggressiv zu schubsen. Sobald wir das Bezirkspolizeipräsidium betraten, wurde er netter und entschuldigte sich sogar. Und fragte mich, warum ich humpelte.
Als Nächstes kam das Büro der Kriminalpolizei. Wegen des Stresses ist der Moment des Verhörs einfach aus meiner Erinnerung verschwunden. Alles, woran sich Ihar erinnert, ist, dass er zugab, dass er beim Marsch war.
– Er tippte etwas ab, zeigte es mir und zwang mich, es zu unterschreiben. Vielleicht ist „zwang“ nicht richtig, er sagte eben: „Unterschreiben“, und ich tat es. Dieser Typ führte mich aus dem Büro heraus und sagte: „Was redest du da? Sag, dass du nie an irgendwas teilgenommen hast, sonst erfindet man irgendwas und beschuldigt dich“.
Im Erdgeschoss musste man wieder warten. Aber diesmal mit dem Gesicht zur Wand. Nach und nach füllte sich der lange Korridor mit Menschen. Noch zwei Stunden, dann ging es ins Auditorium, um einen Polizeibericht zur Ordnungswidrigkeit zu verfassen.
– Man setzte mich zu irgendeinem Typen, der etwa 20 Jahre alt aussah. Er reichte mir einen Zettel, auf dem stand: Ich heiße so und so, habe an der Kundgebung teilgenommen, habe dies und das gerufen – so ziemlich das Standardthema, das jeder bekommen hat. Ich sagte, dass ich an nichts teilgenommen hatte und nicht unterschreiben würde. „Wenn du nicht unterschreibst, wird es nur noch schlimmer. Schreib, dass du mit dem Protokoll nicht einverstanden bist“, sagte der Mann. Das schrieb ich.
Obwohl Ihar noch nicht verurteilt worden war, wurden seine Fingerabdrücke, Fußabdrücke und Speichelproben genommen und er wurde aus einer Vielzahl von Blickwinkeln fotografiert. Und man warf ihn in eine Polizeizelle. Dort saßen schon fünf Menschen, die ein paar Stunden zuvor festgenommen worden waren. Einige wurden hereingebracht, andere herausgeholt, und irgendwann versammelten sich ziemlich viele Personen in der Zelle. Die Ventilation war keine Abhilfe gegen die schlechte Luft. Natürlich gab es kein Wasser und eine Flasche statt einer Toilette. Gegen zwei Uhr morgens kam der Polizeitransporter Richtung Akreszina. Ihar wurde wieder in die Zelle gesteckt, mit nur zwei Begleitern.
Akreszina – ein Chamäleon
– In Akreszina verprügelte man mich nicht. Und ich habe auch nicht gesehen oder gehört, dass jemand anderes an diesem Tag zusammengeschlagen wurde. Alle wurden im Korridor entlang der Wände platziert. Es wurde viel geschimpft, wenn man etwas nicht richtig machte. Zum Beispiel stellte sich heraus, dass man nicht gegenüber vom Eingang der Zelle stehen durfte. Aber niemand warnte einen davor. Es machte ihnen Spaß, Leute dafür zu bestrafen, dass sie gegen unausgesprochene Regeln verstießen.
In die Vier-Personen-Zelle kam Ihar erst am Morgen. Als Sechster. Mit einem anderen Leidensgenossen. Zwei der Inhaftierten hatten am Vortag ihre Betten an die Neulinge abgegeben. Am Morgen wurden die jungen Männer in eine andere Zelle verlegt, wo jeder sein eigenes Bett hatte. Zu dieser Zeit waren die Zellen nicht überbelegt. Jeder hatte eine Matratze und Bettzeug. Sie durften sogar tagsüber schlafen.
Generell achtete man nicht wirklich darauf, was die Häftlinge taten, solange sie keinen Ärger machten. Alle drei Tage wurden zuverlässig die Päckchen überreicht. Die Häftlinge hatten Kreuzworträtsel, Bücher von ihren Verwandten, Zeitschriften, insbesondere „Nascha Historija“ [„Unsere Geschichte“], und Ihar las viel. Es gab zwei Spaziergänge, jeweils 15 Minuten auf dem käfigartigen Hof. Solche Bedingungen kann man nur schwer mit Akreszina in Verbindung bringen, nicht wahr?
„Während ich einen Entwurf für den Einspruch gegen das Gerichtsurteil schrieb, fand eine Inspektion statt. Als ich wieder hereinging, war der Entwurf weg“
Aber selbst dann hatten die Mitarbeiter von Akreszina ihren „Spaß“: Jeden Morgen wurden die Leute zum Aufstellen nach draußen geführt und abgetastet, während ihre Zelle auf den Kopf gestellt wurde. Man versuchte, moralischen Druck auszuüben.
– Man konnte wirklich hören, wie die Wächter versuchten, ihre Stimmen zu verstellen, um rauer zu klingen und uns irgendwie zu beeindrucken, aber dieser Akzent… Er hält sich für hart, aber er sieht einfach nur lächerlich aus. Ich weiß nicht, was für ein Leben sie geführt haben, wie sie erzogen wurden, dass sie sich so verhalten.
Am Montag fand die Gerichtssitzung via Skype statt. Alles, wie man es in diesem Genre kennt: Der Zeuge mit der Sturmhaube behauptete, Ihar festgenommen zu haben, aber der Ort und die Zeit stimmen nicht mit der Realität überein, und bei der Beschreibung der Kleidung des Mannes irrte er sich ebenfalls. Am Ende gab es 13 Tage Haft. In Akreszina war Ihar bei vielen der Urteile „anwesend“ – direkt vor seiner Zelle stand der Tisch, an dem die Prozesse stattfanden. Einer war besonders einprägsam. Denn der Festgenommene wurde auf der Flucht vor den Einsatzkräften von einem Auto angefahren und brach sich ein Bein. Drei Tage lang saß er mit dem gebrochenen Bein in Akreszina, bis er schließlich ins Krankenhaus gebracht wurde, um einen Gips anzulegen. Sein Anwalt fand ein Überwachungsvideo des Unfalls, das die Aussagen der Zeugen vollständig widerlegte. Die Richterin beschloss daraufhin, sich diese Materialien einfach nicht anzusehen und sie nicht mit dem Fall zu verbinden.
Als er in Akreszina saß, versuchte Ihar, einen Einspruch gegen das Urteil zu schreiben. Dieser müsste innerhalb von zehn Tagen vor Gericht gebracht werden.
– Zuerst verfasste ich einen Entwurf. Ich brachte ihn nicht ganz zu Ende – es gab eine Inspektion. Als ich wieder hereinkam, war der Entwurf verschwunden. Danach stellte ich den Einspruch fertig und musste zwei Tage lang kämpfen, damit er verschickt wurde. Am Ende verschickte man ihn, aber so, dass er rechtlich nicht mehr gültig war.
Aber das Wichtigste in Akreszina war die Kommunikation. Die beiden Mitbewohner in der Vier-Bett-Zelle wechselten fast alle 24 Stunden. Trotz der kurzen Bekanntschaft steht Ihar immer noch in Kontakt mit einigen seiner Zellengenossen. Auch wenn die meisten von ihnen bereits in Polen oder in der Ukraine sind.
– In meiner Zelle saß ein Mann, der beruflich entweder Spanndecken oder Küchen baute. Er kam mit seinem Werkzeug aus dem Hauseingang und wurde direkt im Hof festgenommen, das Werkzeug wurde weggeworfen, das Auto wurde offen gelassen. Sie brachten ihn in seiner Arbeitsbekleidung direkt nach Akreszina. Dort saß auch ein Mann, der zunächst überhaupt keinen Kontakt wollte. Ich dachte, er sei ein „Jabazka“ (umgangssprachliche Bezeichnung für Lukaschenka-Anhänger), um ehrlich zu sein. Aber später wurde mir klar, dass er unter großem Stress stand und sein Verstand deshalb ein wenig beeinträchtigt war. Ich glaube, er hatte das Gefühl, dass er in eine Zelle mit Leuten gesteckt wurde, die etwas aus ihm herausbekommen wollten.
Er begann, Panikattacken zu bekommen. Eines Nachts rief er durch das Fenster seinen Namen und seine Zellennummer und dass er in Gefahr sei. Wir versuchten, ihn zu beruhigen – vergeblich. Wir fingen an, den Alarmknopf zu drücken – eine halbe Stunde später kam der Gefängniswärter: „Ich bringe etwas Baldrian mit“. Aber er ging und kam nicht wieder. Jedenfalls beruhigten wir ihn selbst und brachten ihn ins Bett. An dem Tag, an dem ich entlassen wurde, war die Zelle überfüllt – es saßen zehn Personen darin. Der Mann begann, seinen Kopf mit aller Kraft auf den Tisch zu schlagen. Verletzte sich den Kopf. In diesem Moment werden mein Freund und ich zur Freilassung in eine separate Zelle gebracht. Wir sagen der Blondine vom Sicherheitsdienst, dass hier jemand Hilfe braucht. Ich erkundigte mich später nach ihm und anscheinend hat man ihm irgendwie Hilfe geleistet.
„Dort saß auch ein Mann, der zunächst überhaupt keinen Kontakt wollte. Ich dachte, er sei ein „Jabazka“, um ehrlich zu sein. Aber später wurde mir klar, dass er unter großem Stress stand“
An einem frühen Morgen wurde Ihar plötzlich aus seiner Zelle geholt, mit Handschellen gefesselt und in ein ziviles Auto gesetzt. Links und rechts saßen Mitglieder der Sicherheitsbehörden, sehr jung, „wie frisch aus der Schule“. Und völlig abgekapselt. Wohin fahren wir? Keine Antwort. Ihar landete beim Ermittlungskomitee eines der Bezirke. Dort erfuhr er, dass er zum Verdächtigen in einem Strafverfahren geworden war.
Der Ermittler selbst fragte, ob er einen Anwalt hat. Aber die Frage war rein formell und man versuchte direkt, ihn zu überreden: „Nun, wissen Sie, wir werden den Vorstand anrufen, dann müssen wir warten, das dauert ein paar Stunden. Müssen Sie wirklich hier herumwarten? Ich selbst habe die Zeit…“ Tatsächlich tauchte der diensthabende Anwalt (übrigens ein guter) zwei Minuten später auf. Aber man schaffte solche Bedingungen, dass Igor nicht vertraulich mit dem Verteidiger sprechen konnte. Der Ermittler verließ zwar den Raum, aber der Wächter und eine Frau, die wie eine Sekretärin aussah, blieben im Zimmer. Über den Anwalt wollte Ihar zumindest eine Nachricht an seine Familie weitergeben.
Die vier oder fünf Stunden außerhalb von Akreszina verbrachte Ihar in Handschellen. Sie wurden nur geöffnet, damit er den Polizeibericht unterschreiben konnte. Später besuchten zwei Ermittler Ihar in Akreszina, um mit ihm zu sprechen. Scheinbar wollten sie mehr Informationen aus ihm herausholen. Mit dieser moralischen Last saß Ihar den Rest seiner Zeit ab. Später würde der Ermittler des Strafverfahrens ihn noch ein paar Mal anrufen. Und – die Stille des Unbekannten.
Die Krankenschwester im Gefängnis sagte: „Wenn du atmen kannst, dann geben wir dir nichts“
Ihars Gesundheit war schon seit seiner Festnahme ein Problem. In Akreszina versuchte er sogar, medizinische Hilfe zu bekommen.
– Ich hatte starke Schmerzen in den Rippen, im Rücken und konnte nicht richtig atmen – ich hatte einen Bandscheibenvorfall. Ich wurde von einer Krankenschwester untersucht, die sogar auf Papier vermerkte, dass ich blaue Flecken und Blutergüsse hatte. Sie sagte: „Wenn du atmen kannst, dann geben wir dir nichts“.
Es tat so weh, dass Ihar sich fragte, ob seine Rippen gebrochen seien. Nach der Freilassung ging er zum Arzt. Es stellte sich heraus, dass es ein eingeklemmter Nerv in seinem Rücken war. Aber während sein Rücken schließlich von alleine heilte, gibt Ihar zu, dass er bei seinen Knien Angst hat, zum Arzt zu gehen. Sie sind geschwollen und machen ihm zu schaffen. Seine Psyche hingegen hat die Probe bestanden.
– Als ich eine Bescheinigung über meine Verhaftung abholen wollte, standen dort immer noch Freiwillige. Eine Psychologin zwang mich fast dazu, mich mit ihr zu unterhalten. Sie sagte: „Dir geht es jetzt gut, aber wenn die Zeit vergeht, wird alles herauskommen“. Sie gab mir Übungen, die ich machen sollte. Na ja, nach einer Woche verschlimmerte sich der Zustand ein wenig, aber es verschwand alles ohne fremde Hilfe. Wissen Sie, ich war in den ersten Augusttagen im Schlamassel, ich sah, wie Menschen verstümmelt und verprügelt wurden. Die Menschen wurden buchstäblich umgebracht. Ich persönlich habe am 9. August einem Mann das Bein verbunden – eine Granate explodierte in der Nähe und schlitzte sein Schienbein auf. Als ein Polizeitransporter einen Typen überfuhr, zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Mir war bereits klar, dass ich es viel einfacher hatte, als die anderen, und es gab nicht viel, wovor ich Angst haben musste. Außer für die Familie.
„Ich habe mich gefragt, was passieren müsste, damit ich sage: Das war’s, ich fahre weg. Mir ist nie etwas eingefallen.“
– Die Psyche passt sich an. Ich bin in meinem Kopf alle möglichen Optionen durchgegangen – irgendwie habe ich mich damit abgefunden. Entweder man verlässt komplett das Land oder man lebt hier damit. Jeden Tag verlassen mehr und mehr Menschen das Land. Und es ist beängstigend: Wer wird hier bleiben? Ich habe mich sogar gefragt, was passieren müsste, damit ich sage: Das war’s, ich fahre weg. Mir ist nie etwas eingefallen. Ich möchte in meinem Land bleiben und gute Dinge tun. Durch dieses Gefühl der Ungerechtigkeit überlege ich immer häufiger: Was ist wichtiger, dein Leben oder das Leben von Hunderttausenden von Menschen? Und kannst du mehr tun, als du es jetzt tust?
So paradox es auch erscheinen mag – Ihar sagt, dass der August und später die 13 Tage in Gefangenschaft ihn ein wenig glücklicher gemacht haben. Denn er begann, die Momente, die ihm früher gewöhnlich erschienen, intensiver zu erleben.
– Ich habe meine Naivität und meine rosarote Brille verloren. Und was ich erworben habe… Ich habe angefangen, stolz darauf zu sein, dass ich Belaruse bin. Ich habe mich einfach in all diese Menschen verliebt, die neben mir waren. Mit vielen Menschen bin ich natürlich nicht mehr befreundet. Nicht, weil sie „Jabazkas“ sind, sondern weil sie versuchen, den Kopf in den Sand zu stecken, sich zu verstecken und nichts zu tun. Aber er hat auch viele Freunde gefunden, denen er vertraut.
P.S. Ihar hat abgelehnt, vor dem Ermittlungskomitee eine Erklärung zu den Schlägen abzugeben.
Author: Projektteam August2020
Illustrationen: Projektteam August2020