Sind Russen, Belarusen und Ukrainer ein Volk?
Der belarusische Journalist, Historiker und Schriftsteller Sjarhej Ablamejka hat einen offenen Brief an den berühmten Autor historischer Prosa Boris Akunin veröffentlicht. Er bezieht sich auf dessen Aussage, dass Russen, Belarusen und Ukrainer ein Volk seien. Diese Idee hat der russischsprachige Schriftsteller, der aus Georgien stammt, in einem Interview mit dem beliebten YouTube-Blogger Yurij Dud geäußert. Akunins Meinung, dass „wir [Russen, Belarusen, Ukrainer] alle gleich sind… und einander im Grunde sehr ähnlich“, wird von vielen geteilt, nicht nur in Russland, sondern auch im Westen, so dass wir es für angebracht halten, die wichtigsten Gedanken aus Ablamejkas Brief hier kurz wiederzugeben.
Der Mythos des „dreieinigen russischen Volkes“ wurde von der russischen Geschichtswissenschaft, die sich in den ideologischen Dienst der Macht stellt, erfunden, wobei der theoretische Rahmen und die notwendigen methodologischen Grundlagen ignoriert wurden.
Die These, dass es einst eine einzige „russische“ Sprache gab, die sich später in drei ostslawische Sprachen aufspaltete, wurde bereits in den 1950er Jahren von Yurij Shevelov, einem renommierten Slawisten von der Harvard University, widerlegt. Er wies nach, dass die Ostslawen nie eine einzige Ethnie waren und dass ihre Sprachen immer differenziert waren. Die phonologischen Merkmale der belarusischen und ukrainischen Sprache wurden beispielsweise bereits im 8. Jahrhundert n. Chr. gebildet, also lange vor der Entstehung des Vorläufers der heutigen russischen Sprache.
Es herrscht große Verwirrung um die Worte Rus und Russisch, und sie wird von den Schöpfern der Mythen missbraucht, auf denen das russische Geschichtsbewusstsein beruht. Im 15.-16. Jahrhundert wurde das Wort „Ruski“ von den Belarus*innen verwendet, um ihre Sprache zu bezeichnen, die heutige Gelehrte als Altbelarusisch kennen. Im Jahr 1517 wurde die belarusische Bibel in dieser Sprache gedruckt, und im 16. Jahrhundert wurden drei Statuten des Großfürstentums Litauen (GFL), die erste Sammlung von Verfassungsgesetzen in Europa, veröffentlicht. Die belarusischen und ukrainischen Identitäten wurden im Raum der GFL im vierzehnten und sechzehnten Jahrhundert geformt.
„Ruski“, die offizielle Sprache der GFL, hatte nichts mit der Sprache zu tun, die im Moskauer Zarenreich gesprochen wurde, so wie die Vorfahren der Russen nichts mit der Schlacht bei Tannenberg (1410) zu tun hatten: Die „ruthenischen“ Regimenter, die daran teilnahmen, waren belarusische und ukrainische Truppen mit ihrer eigenen Kultur, ihren Fahnen und ritterlichen Traditionen.
Nach der ersten Teilung der Rzeczpospolita (gemeinsamer Staat von Polen und GFL, Anm.) im Jahr 1772, als der östliche Teil von Belarus durch das Russische Imperium erobert wurde, begann die Zerstörung der belarusischen Unierten Kirche, der 80% der Bevölkerung angehörten und die ihre Gottesdienste in belarusischer Sprache abhielt. Das bedeutete Massenerschießungen von Bauern, die sich weigerten, zur Orthodoxie zu konvertieren, Prügeln zu Tode und so weiter. In den nächsten 100 Jahren hörte die Unterdrückung nicht auf.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwicklen sich in Belarus und der Ukraine eigenständige nationalen Befreiungsbewegungen. Aber die russische Geschichtswissenschaft sieht nicht die nationale Entwicklung, die sich damals bei den Bewohnern des ehemaligen Großfürstentums Litauen vollzog. Sie sieht darin eine „polnische Intrige“. Dann gab es den Aufstand von 1863-1864, den Russland als „polnisch“ bezeichnet, obwohl sein Anführer Kastus Kalinouski, der eine provisorische Regierung von Litauen und Belarus schuf, Staatsdokumente in belarusischer Sprache ausstellte. Der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen, Kalinouski und Dutzende seiner Mitstreiter wurden hingerichtet und Hunderte von Belarusen wurden nach Sibirien verbannt. Die Repressionen und Deportationen wurden in den 1870er und 1880er Jahren fortgesetzt. Gleichzeitig wurde Belarus von neu eingetroffenen russischen Beamten aller Ebenen, Lehrern, Polizisten, Militärs und Priestern besiedelt.
Ähnliche Prozesse fanden in der Ukraine im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert statt. Aber die heutigen russischen Ideologen ignorieren diese Tatsachen völlig, so wie sie auch das moderne Phänomen der Nationen ignorieren. Damit begehen sie einen fatalen wissenschaftlichen und politischen Fehler.
Die Belarusische Volksrepublik und die Ukrainische Volksrepublik, die nach dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1918 gegründet worden waren, verloren ihre Unabhängigkeitskriege gegen das bolschewistische Russland, das die unter den Zaren begonnenen Repressionen gegen die Belarusen und Ukrainer fortsetzte.
Allein im Jahr 1921 wurden fast 1.500 belarusische „Nationalisten“ Repressionen unterzogen. Selbst in der Zeit der Belarusisierung (1923-1929), als die belarusische Sprache in die Schulen und Universitäten zurückkehrte, hielten die Repressionen und Vertreibungen an. Ab 1930 wurden sie allgegenwärtig und hörten bis zum Kriegsausbruch nicht mehr auf. Fast alle Mitglieder des belarusischen Schriftstellerverbandes wurden deportiert, die meisten von ihnen wurden erschossen. Das gleiche Schicksal erwartete Tausende von belarusischen Wissenschaftlern, Lehrern, Journalisten und Staatsbediensteten.
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die belarusischen Emigranten nach Mensk zurückkehrten, scheuten die Passanten auf den Straßen vor ihnen zurück, als sie die belarusische Sprache hörten. Nach den Repressalien der 30er Jahre hatten die Menschen Angst, auch nur ein Wort auf Belarusisch zu sagen. Die Nazis haben dies ausgenutzt. Sie eröffneten mehr als 3.500 belarusische Schulen in Belarus und ermöglichten die Gründung belarusischer öffentlicher Organisationen, die Herausgabe von Zeitungen, die Eröffnung von Schulen und Universitäten. Doch sowjetische Partisanen setzten auf Befehl aus Moskau belarusische Schulen in Brand und ermordeten Lehrer. Nach dem Krieg gingen die Deportationen und Vertreibungen wieder weiter. Allein zwischen 1945 und 1950 wurden aus Belarus etwa eine Million junge Männer und Frauen deportiert.
Die Verluste der belarusischen Kultur durch die Zugehörigkeit zum Russischen Imperium und zur UdSSR sind enorm: Im 18. und 19. Jahrhundert wurden zahllose Sammlungen von Kunstwerken und Büchern nach Russland verschleppt; eine unvorstellbare Anzahl von Gemälden, Skulpturen und alten Schriftstücken wurde verbrannt; in den 1920er und 1930er Jahren wurden Werke belarusischer Dichter, Schriftsteller und Komponisten zerstört. In den 1920er und 50er Jahren wurden Archive vernichtet. Die historischen Zentren von Kyjiw und Minsk, die während des Zweiten Weltkriegs zerstört worden waren, wurden nicht wieder aufgebaut, aber die Wiederherstellung von 15 alten russischen Städten wurde durch eine Resolution des Rates der Volkskommissare der UdSSR im November 1945 ausdrücklich genehmigt.
Der bedeutende französische Historiker Alain Besançon schrieb: „Die sowjetischen Behörden starteten einen Angriff auf die ukrainische Sprache… Es gelang ihnen, Kiew, Charkow (der Beweis dafür ist, dass ich die russische Schreibweise dieser Eigennamen verwende) und andere große Städte zu russifizieren – sowohl durch die Einwanderung von Russen in die Ukraine als auch dadurch, dass sie die Ukrainer zwangen, in wissenschaftlichen und technischen Aktivitäten und in verschiedenen öffentlichen Lebensbereichen nur noch Russisch zu verwenden“.
Wenn wir das Wort „ukrainisch“ durch „belarusisch“ ersetzen, erhalten wir eine genaue Beschreibung dessen, was Russland mit der belarusischen Sprache gemacht hat. In den 60er Jahren gab es in den belarusischen Städten keine belarusischsprachigen Schulen und Universitäten mehr – die Städte wurden russischsprachig. Und so wurden wir „einander im Grunde sehr ähnlich“.
Unsere Völker haben sich nie mit dieser Situation abgefunden. Die Bewegung zum Schutz der belarusischen und ukrainischen Sprache und die damit verbundene Unterdrückung ihrer Verfechter hat während der gesamten Existenz der Sowjetunion nicht aufgehört. Damals wurden ukrainischsprachige Ukrainer und belarusischsprachige Belarusen als Nationalisten bezeichnet, heute nennt man sie „Nazis“.
Die Russ*innen glauben, wenn die Menschen in Kyjiw und Mensk Russisch sprechen, „sind wir ein Volk“. Sie wollen nicht wissen, dass die russische Sprache der Ukrainer*innen und Belarus*innen keine Bestätigung ihres Russischseins ist, sondern das Ergebnis jahrhundertelanger Unterdrückung und einer Politik der Erstickung von nationalen Bewegungen in Belarus und der Ukraine. Und sie beraubt Russland der Hoffnung auf Läuterung durch Reue und auf eine historische Perspektive.
Trotz der Tatsache, dass die belarusische Sprache seit mehr als zweihundert Jahren absichtlich zerstört wurde und nun laut UN-Klassifizierung vom Aussterben bedroht ist, lebt sie dennoch weiter. Und das ist ein Zeugnis für das große Geheimnis und die Kraft des Nationalen im Menschen.
Wenn man heute von „einem dreieinigen Volk“ spricht, ignoriert man nicht nur die historischen Fakten, sondern unterstützt auch das grausame Gemetzel, das Russland in Europa entfesselt hat. Der russische Imperialismus entspringt den Vorstellungen vom „dreieinigen russischen Volk“. Wenn der Krieg vorbei ist und Russland seine imperialen Ansprüche auf Belarus und die Ukraine aufgibt, sollte es sich auf seine inneren Probleme und die nationale Entwicklung konzentrieren. Und die russische intellektuellen Eliten sollte das Nachkriegsrussland ermutigen, die Leugnung der Existenz der ukrainischen und belarusischen Nationen zu kriminalisieren. Denn aus solchen Ideen erwächst der russische Faschismus.