Natallia Hersche: „Ich möchte unbedingt im Neuen Belarus ankommen!“
Zehn Monate nach ihrer Freilassung erzählte die ehemalige politische Gefangene dem Nachrichtenportal „Gazetaby.com“, wie sie trotz der schrecklichen Haftbedingungen nicht aufgegeben hat, wie sie sich rehabilitiert und was sie sich für das neue Jahr wünscht.
— Viele Menschen schreiben mir über die sozialen Medien. Ich habe das Gefühl, dass sich die Leute für mich interessieren und mehr über mich wissen wollen. Sogar hier in der Schweiz haben mich ein paar Mal Menschen auf der Straße oder in einem Geschäft erkannt“, sagt Natallia Hersche, ehemalige politische Gefangene und Staatsbürgerin von Belarus und der Schweiz.
Sie verbrachte siebzehn Monate in Gefangenschaft in Belarus für ihre politische Haltung. Am 18. Februar 2022 wurde Natallia nach einer persönlichen Intervention des Schweizer Bundespräsidenten Ignazio Cassis freigelassen.
— Ich war vor kurzem in einem Sanatorium und wurde in einer Spezialklinik für die Rehabilitation nach schwerwiegenden Problemen psychologisch behandelt. Dort werden auch Patienten nach schweren Coronaverläufen und Krebserkrankungen rehabilitiert“, erzählt sie. — Ich habe von dieser Therapie profitiert.
Besonders hilfreich war es, mich mit Menschen zu unterhalten. Jeder hat seine Geschichte erzählt, auch ich. Und die aufrichtige Reaktion der Menschen hat mich sehr unterstützt.
Einige von denen, die unsere Gefängnisse durchlebt haben, berichten, dass die schwierigste Zeit ganz am Anfang ist, wenn man sich nicht an die Haftbedingungen anpassen kann.
— Ganz am Anfang waren wir alle zusammen, nach dem Marsch. Das waren wohl die besten Tage. Am härtesten waren für mich die ersten Tage in der Strafzelle. Wenn man dort ankommt und sich daran erinnert, wie viel Zeit andere hier verbracht haben, denkt man: Gott, so viel kann ich nicht ertragen.
Eine Strafzelle ist wie ein Gefängnis im Gefängnis. Die Zelle ist eineinhalb Meter breit, mit zwei zusammengeklappten Kojen, zwei Nachttischen aus Zement in der Mitte, einem Waschbecken und einem Loch im Boden anstelle einer Toilette. Hoch oben an der Decke befindet sich ein Fenster mit einem belüfteten Rahmen.
Weil die Tür voller Risse ist, herrscht in der Zelle ein schrecklicher Luftzug, es ist sehr kalt und es gibt keinen Ort, wo man sich verdecken kann. Nachts wird es so kalt, dass es unmöglich ist, überhaupt zu schlafen. Sich warm halten oder verdecken darf man nicht — es gibt weder eine Matratze noch ein Kissen, und alles, was man an Kleidung hat, ist ein abgetragenes dünnes Gewand.
Sie sind auch mehrfach in einen Hungerstreik getreten.
— Mehrere Male. Der Hungerstreik in der Kolonie verlief am einfachsten, weil es zu diesem Zeitpunkt bereits der dritte war, der vierte war in Mahiljou. Ich habe viel Flüssigkeit getrunken und konnte den Hungerstreik normal ertragen.
Haben Sie durch die Hungerstreiks etwas erreichen können?
— In der Kolonie, nein. Dort streikte ich, weil mir meine Korrespondenz vorenthalten wurde, mit Ausnahme der Briefe von Freunden und Familie. Der Leiter der operativen Stelle log mir direkt ins Gesicht und sagte: „Wie kommen Sie darauf, dass man Ihnen viel schreibt, alle sind weg, niemand braucht Sie mehr“. Sie haben so ein Ziel, die Menschen davon zu überzeugen, dass alle sie vergessen haben.
Aber ich wusste, dass sich die Leute erinnerten und mir schrieben, und bereit waren, mich zu unterstützen. Ich konnte dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit nicht vergessen, das wir im August und September erlebt hatten. Dieses Gefühl ist nicht verschwunden, davon bin ich überzeugt.
In der letzten Zeit hat man den Eindruck, dass die Europäer die Belarusen aufgrund der Ereignisse in der Ukraine vergessen haben.
— Ich bin nicht der Meinung, dass wir nicht mehr auf der Tagesordnung sind. Objektiv gesehen zieht der Krieg die meiste Aufmerksamkeit auf sich, aber die Belarus*innen sind nicht von der Bildfläche verschwunden, denn die Ereignisse in unseren Ländern sind eng miteinander verknüpft.
Unser Schicksal hängt absolut von der Ukraine ab. Und wenn ich gefragt werde, wie Europa den belarusischen politischen Gefangenen und Belarus helfen kann, dann sage ich ganz klar: Helfen Sie der Ukraine.
Falls die Ukraine diesen Krieg gewinnt, oder besser gesagt, nicht falls, sondern wenn sie ihn definitiv gewinnt, wird dies den Sturz von beiden Regimes zur Folge haben — sowohl in Russland als auch in Belarus.
Was wünschen Sie sich für das neue Jahr?
— Ich habe nur einen Wunsch, aber er hat drei Komponenten: das Ende des Krieges, die Freilassung der politischen Gefangenen in Belarus und der Sturz der Diktatur. Außerdem möchte ich unbedingt im Neuen Belarus ankommen!