Minsk Forum in Warschau: Diskussionen über Ukraine-Krieg und Gender-Themen
Seit 1997 hat die deutsch-belarussische gesellschaft das Minsk Forum in der belarusischen Hauptstadt veranstaltet. Dies ist seit drei Jahren nicht mehr möglich, so dass das Forum an unterschiedlichen Orten Europas durchgeführt wird. In diesem Jahr fand das erste Treffen in Vilnius statt, das zweite in Warschau. „Belsat“ berichtet über die Ergebnisse des Treffens am 2. Oktober in Warschau und wie sie für Belarus vom Nutzen sind.
Einst war das Minsk Forum eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Plattform für Treffen von Vertretern der Zivilgesellschaft mit den offiziellen Behörden sowie mit den ausländischen Diplomaten und Geschäftsleuten, erinnert sich Aleś Čajčyc, Vorstandsmitglied der deutsch-belarussischen gesellschaft. Auf dieser Plattform wurde zuvor versucht, die Verhandlungen zwischen dem Lukaschenko-Regime und den demokratischen Kräften unter deutscher Vermittlung durchzuführen.
„Ich würde nicht behaupten, dass wir hier einige Prozesse nicht beeinflussen können: Das können wir, denn die Anführer der belarusischen Gesellschaft sind hier“, so Čajčyc.
Das Forum versuche, die einflussreichsten Mitglieder der belarusischen Zivilgesellschaft zusammenzubringen, sagt er. Laut Čajčyc, beeinflussen diese nicht nur die Belarus*innen im Ausland, sondern übertragen die Ergebnisse auch an die breitere belarusische Gesellschaft – auch wenn die „alten“ Anführer gezwungen waren, das Land zu verlassen, haben andere führende Persönlichkeiten noch nicht ihren Platz eingenommen.
Im Teil des Forums in Vilnius wurden Fragen der belarusischen Identität und das Aufrechterhalten der internationalen Aufmerksamkeit für Belarus erörtert. Bei der Warschauer Veranstaltung wurden ebenfalls zwei Themen besprochen: das akute Thema – Belarus im Kontext des Krieges in der Ukraine und das zeitunabhängige Thema – Genderrechte und die Rechte von LGBT-Personen.
Die Belarusen sind besorgt über Genderprobleme, können aber mit dem Begriff selbst wenig anfangen
Das erste Thema – Transgenderrechte und die Rechte von LGBT-Personen – wurde von Yulia Mitskevich, Mitbegründerin der feministischen Gruppe des Koordinationsrates, moderiert.
Die Probleme schutzbedürftiger Gruppen sollten von diesen Gruppen selbst angesprochen werden und „normale Menschen widmen sich den wichtigeren Dingen“. Aber die Gesellschaft ist nicht „hinterwäldlerisch“ – das Thema ist für sie relevant, es ist nur so, dass die meisten Menschen das nicht ahnen. Mitskevich berichtete von einer Studie zur Relevanz von Genderproblemen, die von der feministischen Gruppe des Koordinationsrates durchgeführt wurde. Die Belarus*innen setzen das Problem der Gender-Gleichstellung in Bezug auf die Relevanz auf den letzten Platz. Doch gleichzeitig gehören häusliche Gewalt oder das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen zu den drängendsten Problemen. Es ist auch unmöglich, das Problem der sexuellen Belästigung irrelevant zu nennen. Es ist nur so, dass Probleme dieser Art nicht mit dem Wort „Genderprobleme“ bezeichnet werden – und über ihre gemeinsamen Lösungen selten gesprochen wird.
Gegner einer aktiveren Auseinandersetzung mit Genderproblemen argumentieren, dass das Thema eng gefasst sei und und angesichts der Repressionen in Belarus und des Krieges in der Ukraine keine Zeit dafür bleibe. Aber in der Ukraine selbst wurde während des Krieges das Übereinkommen des Europarats zur Vorbeugung der Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ratifiziert. Medienunternehmen sorgen für die Sichtbarkeit von Frauen im Krieg und die Soldaten der Streitkräfte der Ukraine, die der LGBTQ+ angehören, führen selbst eine Kampagne durch, um zu zeigen, dass im Krieg nicht nur stereotype heterosexuelle Männer kämpfen.
Was ist zu tun? Die Teilnehmer der Diskussion antworten: mit allen Akteuren (Gesellschaft, Politik und Medien) zusammen arbeiten, simple Tatsachen auf kreative Art beweisen. Ebenfalls sollte man über die Genderwahrnehmung in der belarusischen Identität, nationale Wiedergeburt usw. sprechen. Und daran denken, dass Politiker eine Vorbildfunktion für die Bürger haben.
Wurde Belarus besetzt oder ist Belarus ein Co-Aggressor?
Das Thema Belarus im Kontext des Krieges in der Ukraine wurde von Kamil Kłysiński, einem Belarus-Experten am Zentrum für Oststudien, moderiert.
Welche Verantwortung trägt Belarus im Krieg in der Ukraine? In Bezug auf Belarus gibt es keine Kohärenz in der Welt: Für die Repressionen gegen Belarusen ist das Regime verantwortlich, für den Krieg wird aber häufig das ganze belarusische Volk verantwortlich gemacht.
Einige nennen Belarus einen Co-Aggressorstaat, andere nennen es ein besetztes Land. Das Völkerrecht ist in solchen Fällen unflexibel und wird nicht so schnell angepasst und seine Instrumente tragen nicht zum Schutz der Belarusen bei. Aber obwohl Belarus nicht sicher als „juristisch besetzt“ bezeichnet werden kann, gibt es viele Anzeichen für eine tatsächliche Besetzung, insbesondere in den Aktivitäten des Machtblocks und bestimmter Personen, die mit dem Regime in Verbindung stehen.
Die Belarus*innen sollten ihren Status eines Co-Aggressors reflektiert betrachten, wobei die Erfahrungen anderer Staaten, auch im Kontext des Ersten und Zweiten Weltkriegs, hilfreich sind. So wurde das Frankreich des Vichy-Regimes nicht formell von den Nazis besetzt, sondern handelte im Interesse der Nazis, und das Freie Frankreich unter der Führung von Charles de Gaulle ging als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervor.
Und es ist notwendig, den Westen an die Illegitimität des Regimes, an die Proteste, an die Zahl der Opfer der Repressionen zu erinnern; Belarus „von der Position eines Co-Aggressors in eine andere Liga“ zu versetzen und die Einstellungen „Belarus ist kein Aggressorland“ und „die belarusische Armee ist kein Aggressor“ zu fördern. Es gibt genug Beispiele hierfür und manchmal tauchen neue unerwartet auf: Zum Beispiel haben die belarusischen Grenzsoldaten am Tag vor dem Warschauer Treffen während der allukrainischen Schweigeminute für die toten Helden die Flagge gesenkt.
Die Frage der Sanktionen für den Krieg in der Ukraine ist eine „heikle Angelegenheit“, bei der es gut wäre, alle Faktoren abzuwägen. Wenn wir nur beschließen, „die ganze Industrie von Belarus lahmzulegen“, könnte sich vielleicht herausstellen, dass wir anstelle eines „ausgebluteten Regimes“ wütende Minenarbeiter des Bergwerks in Salihorsk bekommen, die „uns alle mit ihren Helmen schlagen, weil sie keine Mittel haben, um ihre Kinder zu ernähren“? Ist es für die Wirksamkeit von personenbezogener Sanktionen notwendig, diese lebenslänglich zu verhängen und die Verantwortung auf die Kinder von sanktionierten Personen auszudehnen?
Die Diskussionsteilnehmer*innen rieten den demokratischen Kräften jedoch, nicht nur darüber nachzudenken, sondern auch über eine langfristige Unterstützung bei der Finanzierung ziviler Initiativen und über die Aufstellung der Personalreserve. Außerdem soll die Idee „Veränderungen in Belarus werden von Belarus selbst kommen“ weitergedacht werden. Es ist auch notwendig, die Idee eines Programms für die Evakuierung und Rehabilitation der in Belarus freigelassenen politischen Gefangenen zu fördern und Vorschläge für eine aktivere und sicherere Nutzung der Ressourcen der in Belarus verbliebenen Aktivist*innen und Gemeinschaften zu unterbreiten.