Krieg in der Ukraine: Ist Belarus Mitaggressor?
Belarus hat in Russlands Krieg gegen die Ukraine eine Doppelrolle gespielt. Einerseits wurde belarusisches Territorium als Startrampe für den russischen Einmarsch in die Ukraine genutzt, der den Konflikt enorm verschärft hat. Andererseits haben sich Tausende belarusische Bürger*innen als Freiwillige und Soldat*innen dem Kampf für die Freiheit der Ukraine angeschlossen. Der neue Kurzfilm von Voice of Belarus, Malanka Media und Viasna beleuchtet dieses Dilemma.
Als Russland 2022 belarusisches Territorium nutzte, um den Krieg gegen die Ukraine zu führen, geschah dies mit vollem Wissen und Einverständnis des Regimes von Alexander Lukaschenko. Nach Militärübungen Anfang 2022 überquerte die russische Armee am 24. Februar die Staatsgrenze von Belarus und startete eine verheerende Offensive auf Kyjiw. Die belarusisch-ukrainische Grenze, über die der kürzeste Weg zur Hauptstadt der Ukraine führt, wurde zum Tor für die Eindringlinge. Tragischerweise ließ das Lukaschenko-Regime danach noch lange russische Raketenangriffe von belarusischem Boden aus zu, was die katastrophale Situation in der Ukraine weiter verschärfte.
“Etwas Unbegreifliches ist geschehen: Die Vergangenheit hat die Oberhand gewonnen und regiert heute. Wir werden von alten Menschen beherrscht, ihre Ideen, ihr Wissen, das, was sie gelesen haben, sind plötzlich stärker als wir, die wir anders leben wollen.”
Swjatlana Alexijewitsch, belarusische Schriftstellerin, Nobelpreisträgerin 2015
Wie bereits Putin könnte Lukaschenko bald als Kriegsverbrecher anerkannt werden, denn auch ihm wird die Entführung ukrainischer Kinder aus den besetzten Gebieten vorgeworfen, was als Völkermord gilt. Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine hat Minsk gewaltsam unter aktiver Beteiligung des Belarusischen Roten Kreuzes 2.150 Kinder nach Belarus gebracht. Im April stufte die Parlamentarische Versammlung des Europarates dieses Vorgehen als Völkermord ein und machte Alexander Lukaschenko für das Verbrechen verantwortlich. Der Internationale Strafgerichtshof wird aufgefordert zu prüfen, ob gegen Lukaschenko ein ähnlicher Haftbefehl wie gegen Putin erlassen werden sollte.
Lukaschenko kommentierte zynisch: „Wir sind dort beteiligt. Wir machen keinen Hehl daraus. Aber wir töten niemanden. Wir schicken unsere Soldaten nirgendwo hin.“ Allerdings weiten viele Länder einige der Sanktionen, die sie gegen Russland verhängt haben, wegen Mitschuld an der Aggression auf Belarus aus. Aus diesem Grund haben viele belarusische Staatsbürger*innen, die wegen der Verfolgung durch den Diktator aus ihrer Heimat fliehen mussten, Probleme mit Aufenthaltstiteln und gesperrten Bankkonten, sowohl in der Ukraine als auch in der EU.
Die demokratischen Kräfte von Belarus arbeiten unermüdlich daran, der Welt klarzumachen, dass die Handlungen des illegitimen Herrschers nicht den Willen des belarusischen Volkes repräsentieren.
Swetlana Tichanowskaja appellierte auf dem Warschauer Sicherheitsforum an die internationale Gemeinschaft:
Die Welt muss aufhören, Belarus als Teil Russlands zu denken. Wir waren viele Jahrhunderte ein Teil Europas, bevor Russland nach Belarus kam. Respekt und Schutz proeuropäischer Belarus*innen sollten ein integraler Bestandteil der westlichen Politik sein. Die Belarus*innen sind gegen den russischen Krieg in der Ukraine, deshalb sage ich immer: Man muss zwischen dem Volk und dem Regime unterscheiden. Einerseits ist es notwendig, Vermögenswerte des Regimes im Ausland einzufrieren und einen Haftbefehl gegen Lukaschenko wegen der gesamten Liste der von ihm begangenen Verbrechen auszustellen. Andererseits muss man Menschen helfen, die vor Repressionen fliehen.
Seit Mai 2022 besteht eine Vertretung des Büros von Swetlana Tichanowskaja in Kyjiw, um Beziehungen zu den ukrainischen Staatsorganen aufzubauen und die Interessen der in der Ukraine ansässigen Belarus*innen zu schützen. Vor dem Krieg gab es etwa 50.000 von ihnen. Viele sind geflohen, aber andere bleiben in dem vom Krieg zerrütteten Land und helfen als Freiwillige oder kämpfen an der Seite der Ukraine. Heute ist die Repräsentanz des Büros von Tichanowskaja die einzige Institution, die Belarus in der Ukraine vertritt. Lukaschenkos Botschaft verließ Kyjiw unmittelbar nach Kriegsbeginn.
Seit Beginn der groß angelegten russischen Invasion in der Ukraine zeigen die Belarus*innen aktiv ihre Antikriegshaltung: Sie organisieren Märsche und Mahnwachen und beteiligen sich auf ukrainischer Seite am Informationskrieg, sie haben die Bahnanlagen der belarusischen Eisenbahn beschädigt, um den Transport russischer Waffen zu behindern, und einen gewagten Drohnenangriff auf ein russisches Militärflugzeug durchgeführt.
Mindestens 1.630 Belarus*innen wurden wegen Antikriegsaktivitäten und -erklärungen verhaftet.
Die massivsten Proteste gegen den Krieg fanden am 27. und 28. Februar 2022 in ganz Belarus statt, an den beiden Tagen des „Referendums“, das der Diktator angeordnet hatte, um die Verfassung zum dritten Mal ändern zu können. Die Menschen schrieben Antikriegssprüche auf Stimmzettel, versammelten sich in der Nähe von Wahllokalen und äußerten gemeinsam ihre Missbilligung der Situation in der Ukraine. Es kam zu spontanen Kundgebungen in Städten und Dörfern, die aber brutal unterdrückt wurden. Seitdem wurden viele Menschen mit Haft dafür bestraft, dass sie zum Beispiel Antikriegsplakate mithilfe von Luftballons in die Luft steigen ließen, gelbe und blaue Kleidung trugen, Blumen und Laternen vor das Tor der ukrainischen Botschaft brachten, ukrainische Lieder bei einem Konzert sangen oder einfach nur zu Hause ukrainische Musik hörten.
Die Nachkommen der belarusischen Partisanen, die während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg die Eisenbahn sabotierten, treten heute in die Fußstapfen ihrer Vorfahren. Seit Beginn der groß angelegten Invasion haben die Belarusen den Eisenbahnbetrieb gestört, um den russischen Nachschub zu behindern. Bis jetzt wurden 13 Personen, die man als „Eisenbahnpartisanen“ bezeichnet, zu Haftstrafen von insgesamt fast 200 Jahren verurteilt.
Eine große Resonanz löste der Fall von Wital Melnik aus, dem während der Festnahme die Knie durchschossen wurden. Der 40-Jährige wurde beschuldigt, einen Relaiskasten an einer Bahnstrecke in Brand gesetzt zu haben, wodurch die automatische Signalanlage außer Betrieb gesetzt wurde. Im Gefängnis erhielt er keine angemessene medizinische Versorgung und muss immer noch auf Krücken gehen. Trotz eines eklatanten Mangels an Beweisen wurde er zu 13 Jahren Haft verurteilt.
Drei Männer aus Swetlahorsk, Dsjanis Dsikun, Dsmitry Rawitsch und Aleh Maltschanau, wurden im Rahmen des Vorgehens gegen die „Eisenbahnpartisanen“ des Terrorismus und des Hochverrats beschuldigt. Sie wurden zu jeweils 21, 22 und 23 Jahren Haft in einer Kolonie verschärften Regimes verurteilt. Bisher ist dies das härteste Urteil für Sabotage an der belarusischen Eisenbahn.
Eine andere Form des Widerstands gegen den Krieg bestand darin, dass Belarus*innen landesweit russische Militärausrüstung fotografierten und diese Informationen mit dem Projekt Belarusian Hajun oder unabhängigen Medien teilten. Diese Überwachung der russischen Militäraktivitäten hat sich für die ukrainischen Behörden und Bürger*innen als unglaublich hilfreich erwiesen, insbesondere in den Anfangsphasen des Krieges. Die Menschen, die dazu beitragen, riskieren jedoch ihre Freiheit, da sie wegen „Förderung extremistischer Aktivitäten“ oder sogar wegen „Hochverrats“ angeklagt werden können, wenn sie gefasst werden.
Von den ersten Kriegstagen an haben belarusische Freiwillige als Teil der ukrainischen Armee an den schwierigsten Kämpfen in Schlüsselgebieten teilgenommen. Sie kämpften in der Nähe von Kyjiw, in Hostomel, Butscha, Cherson, Lyssytschansk und Bachmut.
Die größte Einheit, die aus belarusischen Soldat*innen besteht, ist das Kastus-Kalinouski-Regiment, das 2022 in die ukrainischen Streitkräfte integriert wurde.
Der Name Kastus Kalinouski, Anführer eines berühmten Aufstandes der Belarusen gegen das Russische Reich, erschreckt das Regime so sehr, dass neulich selbst der Ausdruck „Kastus-Kalinouski-Regiment“ und alle Logos der Einheit für „extremistisch“ erklärt wurden. Laut Radio Free Europe zählt das Regiment derzeit etwa 300 Mann. Einige von ihnen kämpften bereits 2014–2016 auf ukrainischer Seite in der Ostukraine.
Belarus*innen dienen auch in der Zweiten Internationalen Legion und anderen Einheiten der ukrainischen Streitkräfte. Darüber hinaus gibt es seit 2022 ein Belarusisches Freiwilligenkorps, das sich die „De-Okkupation von Belarus und der Ukraine“ zum Ziel setzt. Aus Sicherheitsgründen wird die genaue Anzahl der belarusischen Freiwilligen in der Ukraine nicht bekannt gegeben. In vielen Fällen erfährt man von ihrem militärischen Engagement erst nach ihrem Tod im Kampf. Selbst dann wird die Identität der Gefallenen nicht immer offengelegt, um schwerwiegende Folgen für ihre Verwandten in Belarus zu verhindern. Nach Angaben des ukrainischen Portals Slovo i Dilo haben über 40 Belarusen ihr Leben im Kampf für die Ukraine verloren, sodass sie in der tragischen Rangliste der gefallenen Ausländer nur den Georgiern nachstehen.
Der belarusische Soldat Aljaxej Skoblja, Rufname Tur (Auerochse), diente im Kastus-Kalinouski-Regiment. Er kam in der Schlacht bei Kyjiw um. Wolodymyr Selenskyj ehrte ihn mit dem Titel „Held der Ukraine“. Aljaxej war somit der zweite Belaruse, dem dieser Titel zuteil wurde. Als erster wurde 2014 Michail Schysneuski postum ausgezeichnet, der bei den Maidan-Protesten getötet wurde.
Nach beiden belarusischen Helden der Ukraine wurden Straßen in ukrainischen Städten benannt. Die ukrainische Stiftung Vilna Bilorus will ein Museum für belarusische Freiwillige in Butscha eröffnen, für das ihre Angehörigen und Kameraden bereits ihre persönlichen Gegenstände übergeben.
Mit dem Beginn des umfassenden Krieges in der Ukraine wurde Belarus noch stärker von Russland abhängig. Nach dem „Referendum“ im Februar 2022 wurde die Bestimmung über den atomwaffenfreien Status des Landes aus der Verfassung gestrichen und im Juli 2023 gaben die Diktatoren beider Länder bekannt, dass russische Atomwaffen bereits nach Belarus gebracht worden seien. Sollten diese Waffen zum Einsatz kommen, so unwahrscheinlich es auch sein mag, wird Belarus zum Ziel eines Vergeltungsschlags.
Die Belarus*innen sind sich bewusst, dass ohne den Sieg der Ukraine ein Wandel in ihrem Land unmöglich ist. Wadsim Kabantschuk, Vize-Kommandeur des Kastus-Kalinouski-Regiments, hält fest:
„Das ist auch unser Krieg, denn das Motto unseres Regiments lautet: Belarus befreien durch die Befreiung der Ukraine. Wir haben in der Tat denselben Feind: das Putin-Regime und seine Marionette, das Lukaschenko-Regime.“
Wolodymyr Selenskyj sieht das Potenzial für eine neue Ära der Zusammenarbeit und Sicherheit in der Region Osteuropa. Kürzlich betonte er:
“Russland wird in dieser Auseinandersetzung verlieren. Nachdem es verloren hat und als Folge davon ergibt sich eine historische Chance, die geopolitische Stabilität entlang der gesamten Linie von Skandinavien über Minsk und Kyjiw bis in den Südkaukasus zu sichern.”
Die Schicksale von Belarus und der Ukraine sind untrennbar verbunden, wie zwei Zweige desselben Baumes, die im Wind der Geschichte schwanken. Ein unabhängiges und demokratisches Belarus wird als Schutzschild fungieren und die Ukraine im Kampf gegen äußere Bedrohungen unterstützen. Wenn sie kooperieren, können die beiden Länder einen unschätzbaren Beitrag zu einem sichereren und widerstandsfähigeren Europa leisten.