Kniedurchschüsse und Jahre hinter Gittern: Wie Belarusen wegen ihrer Antikriegshaltung verfolgt werden
Mit dem Beginn der Invasion Russlands in die Ukraine zeigen die Belarusen aktiv ihre Antikriegshaltung: Sie organisieren Märsche und Streikposten, verderben Eisenbahnausrüstung, um die Bewegung russischer Militärausrüstung zu verlangsamen, sprengen russische Militärflugzeuge, helfen im Informationskrieg, kämpfen auf der Seite der Ukraine. Insgesamt wurden mindestens 1.630 Belarusen und Belarusinnen festgenommen, weil sie ihre Antikriegshaltung bekundet hatten. Viasna berichtet über die Verfolgung der Belarusen wegen ihrer Antikriegshaltung.
Kniedurchschüsse und Haftstrafen in Rekordhöhe für „Eisenbahn-Partisanen“
Mit Zustimmung Lukaschenkos nutzt Russland im Krieg gegen die Ukraine aktiv das Territorium von Belarus. Eine Menge militärischer Ausrüstung wird auf den Eisenbahnschienen transportiert. Mit dem Beginn der Invasion in der Ukraine fingen die Belarusen an, die Bahnanlagen zu beschädigen, um die Fortbewegung von Militärtechnik zu verhindern. Zum heutigen Zeitpunkt sind 13 „Eisenbahn-Partisanen“ namentlich bekannt, die zu insgesamt 199,5 Jahren Haft verurteilt wurden.
Der Fall Vitaly Melnik, dem während seiner Haft die Kniegelenke durchgeschossen wurden, bekam eine große Resonanz. Der 40-jährige wurde zu 13 Jahren Gefängnis wegen eines „Terrorakts“ verurteilt. Er wurde beschuldigt, einen Brandanschlag auf einen Relaisschrank der automatisch blockierenden Ampel ausgeübt zu haben, wodurch die Eisenbahnalarmanlage deaktiviert wurde.
Verhaftungen und Festnahmen fanden überall in verschiedenen Städten von Belarus statt: Minsk, Swetlahorsk, Stalbtsy, Witebsk, Asipowichi, Mozyr, Babruisk. Die „Gemeinschaft der Eisenbahnarbeiter von Belarus“ schrieb, dass wehrlosen Menschen schon nach der Inhaftierung absichtlich in die Kniegelenke geschossen wurde.
Drei Männer aus Swetlahorsk, Denis Dikun, Dmitri Rawich und Aleg Malchanau, wurden im Rahmen des Falles der „Eisenbahn-Partisanen“ des Terrorismus und des Verrats angeklagt und zu 21, 22 und 23 Jahren in einer Strafkolonie verurteilt. Bisher ist dies die härteste Strafe für Sabotage an der belarusischen Eisenbahn.
Das Gericht verurteilte auch den 22-jährigen Maxim Drobnitsa, weil er sich dem Peramoga-Plan angeschlossen hatte und angeblich plante, die Eisenbahn in die Luft zu sprengen. Der junge Mann wurde in der Nähe der Eisenbahnschienen aus einem Hinterhalt angegriffen und festgenommen. Sergej Glebka wurde verurteilt, weil er Baumstämme auf den Eisenbahnschienen angezündet hatte, um die Bewegung von Zügen zu verlangsamen. Und in Witebsk wurde ein Angestellter der Witebsker Eisenbahn zu 15 Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, das für die Sicherheit der Eisenbahn zuständige System deaktiviert zu haben.
Informationskrieg
Eine andere Art des Kriegswiderstandes ist der sogenannte Informationskrieg. Belarusen im ganzen Land fotografieren Kolonnen der russischen Militärtechnik und übermitteln Informationen an Belaruski Gayun, ein Projekt zur Überwachung der militärischen Aktivitäten, oder an unabhängige Medien. Aufgrund der Tatsache, dass fast alle nichtstaatlichen Medien als „extremistische Gruppen“ gelten, betrachten die belarusischen Behörden die Übermittlung von Daten an sie als „Unterstützung bei extremistischen Aktivitäten“, „Teilnahme an einer extremistischen Formation“ oder sogar als „Staatsverrat“.
So veröffentlichten ein staatliches Massenmedium aus Brest im Dezember ein Video über die Inhaftierung des ehemaligen Soldaten Dmitri Gulin, dem Verrat vorgeworfen wird. Sicherheitsbeamte bezeichnen Dmitri als „einen Agenten der ukrainischen Spezialdienste“. Der ehemalige Soldat soll das ukrainische Militär über die Unterkünfte russischer Einheiten auf dem Territorium von Belarus informiert haben.
Die Englischlehrerin Irina Abdukerina wurde wegen Teilnahme an einer extremistischen Formation zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Sie zeichnete die Bewegung einer Kolonne russischer Militärausrüstung auf ihrem Handy auf und schickte die Aufzeichnung an den Telegram-Kanal von Belaruski Gayun.
Jegor Lebedko, ein Militärexperte, wurde wegen eines Interviews mit Euroradio zum Thema der „speziellen Militäroperation der russischen Streitkräfte auf dem Territorium der Ukraine und der Rolle von Belarus darin“ verurteilt.
Der Leiter der Stadtapotheke, Dmitri Makeev, wurde verurteilt, weil er Videos von russischer Militärausrüstung auf den als „extremistische Formation“ anerkannten Telegram-Kanal übertragen und an das Kalinovsky-Regiment gespendet hatte.
Ein Programmierer aus Senitsa, Dmitri Mastavoi, wurde nach einer Sabotage auf dem Flugplatz in Machulishchi festgenommen. In einem regierungsfreundlichen Film im Staatsfernsehen wurde berichtet, dass er vom Flugplatz Live-Aufnahmen für Belaruski Gayun führte. Wir erinnern, dass im Februar 2023 zwei Explosionen auf dem Militärflugplatz im Dorf Machulishchi bei Minsk zu hören waren. Später wurde bekannt, dass ein russisches militärisches Langstrecken-Aufklärungsflugzeug, mit dessen Hilfe russische Raketen auf Ziele in der Ukraine gerichtet wurden, gesprengt und außer Gefecht gesetzt wurde. Nach der Sabotage fand in Belarus eine besonders große Verhaftungswelle statt. Den Angeklagten im Strafverfahren der Sabotage in Machulishchi kann die Todesstrafe verhängt werden.
Verfolgung wegen der Absicht, für die Ukraine zu kämpfen
Mit dem Beginn der Invasion Russlands in die Ukraine schlossen sich viele Belarusen dem nach Kastus Kalinouski benannten belarusischen Regiment (ehemals Bataillon) an. Zum heutigen Zeitpunkt wurden mindestens 13 Belarusen für ihren Wunsch verurteilt, sich dem Regiment anzuschließen und an der Seite der Ukraine zu kämpfen. Ihnen wird vorgeworfen, sich an einem bewaffneten Konflikt auf dem Territorium eines anderen Staates oder an Söldnertum zu beteiligen.
Laut Staatsanwaltschaft suchte der 37-jähriger IT-Spezialist aus Brest, Sergei Voytyuk, in verschiedenen Internet-Quellen das Verfahren und die Möglichkeiten zum Beitritt zu den Streitkräfte der Ukraine und kontaktierte auch deren Vertreter. Und der 20-jährige Künstler Andrei Raptunovich wurde in Minsk verurteilt, weil er sich dem Kalinouski-Regiment anschließen wollte. In einem erzwungenen Buß -Video auf regierungsnahen Telegram-Kanälen spricht er über die Teilnahme an Protesten und die Registrierung im „Peramoga“-Plan. Im September 2022 wurde Jan Popkovich, ein ehemaliger Mitarbeiter der Belgazprombank, zusammen mit seiner Frau vor ihrer Abreise nach Polen festgenommen. Er wurde in mehreren Sendungen des Staatsfernsehens gezeigt, wo er als Söldner dargestellt wurde, der in den Krieg in der Ukraine ziehen wollte.
Druck auf Kalinovtsy
Außerdem verfolgen die Behörden aktiv diejenigen, die sich bereits dem Kalinouski-Regiment angeschlossen haben.
Im Jahr 2022 fiel den Sicherheitskräfte eine neue, besonders perfide Art von Druck und Einschüchterung ein — sie drehten Videos von Pogromen in den Wohnungen von derjenigen, die sich im Ausland aufhalten. Zuerst filmen sie den Zustand der Wohnung vor der Durchsuchung und zeigen dann ihren Zustand danach: verstreute Gegenstände, kaputtgemachte Möbeln, geleerte Schränke.
So inszenierten die Sicherheitskräfte Ende November eine Pogrom-Orgie in der Wohnung der Pressesprecherin des Kalinowski-Regiments Kristina „Chabor“ und ihres Mannes. Außerdem zerstörten die Sicherheitskräfte die Wohnung von Natalia Suslova, der Mutter des gefallenen Kalinovets Pavel „Volat“. Menschenrechtsaktivisten wissen, dass Sicherheitskräfte die Angehörige von Kalinovtsi regelmäßig für mehrere Tage inhaftieren.
Verhaftungen und Folter für die Teilnahme an Antikriegsaktionen und für die offene Unterstützung und Solidarität mit der Ukraine
Die größten Antikriegsaktionen im ganzen Land fanden im Februar 2022 statt. Innerhalb von zwei Tagen wurden mehr als 1.100 Menschen in Belarus festgenommen.
Die bei den Kundgebungen Festgenommenen wurden von den Sicherheitskräften gefoltert. Demonstranten wurden so heftig geschlagen, dass sie direkt danach ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten.
„Als ich im Krankenhaus war, schickten mir meine Bekannten einen Link zu TikTok, wo das Video mit mir etwa 60.000 Aufrufe sammelte. Das hat meine Seele erwärmt, und ich hoffte, dass, wenn ein Teil der Ukrainer dieses Video sehen würde, sie zumindest ein wenig verstehen würden, dass echte Belarusen niemals Raketen auf sie abgefeuert hätten“, sagte Pavel, der bei einer Antikriegskundgebung festgenommen, geschlagen und anschließend ins Krankenhaus gebracht wurde.
Ein anderer ehemaliger Häftling erinnert sich an die Ereignisse bei der Antikriegskundgebung in Minsk: „Ab einem bestimmten Punkt fingen die Leute die gleiche beleidigenden Worte für Putin zu schreien, die die Ukrainer schon seit Jahren benutzen.“ Dies, so der Mann, sei der Grund für die harten Festnahmen durch die Sicherheitskräfte gewesen. Drei oder vier Militärangehörige liefen sofort auf den jungen Mann zu, schlugen ihn zu Boden und begannen, ihn mit Schlagstöcken zu traktieren. Er bekam 14 Schläge mit dem Schlagstock, fünf davon auf den Kopf. Danach schleiften mehrere Strafverfolgungsbeamte den jungen Mann an den Beinen und Armen in den Polizeitransporter.
Die Belarusen protestierten nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in den meisten Regionen von Belarus. So wurde Anfang April 2023 in Brest ein Mann verurteilt, der in einer örtlichen Karaoke-Bar die Hymne der Ukraine sang, obwohl ein anderer Besucher der Bar, der, wie sich herausstellte, Bürger der Russischen Föderation war, darum bat, keine ukrainischen Lieder zu singen.
Ein Einwohner von Nowopolozk wurde wegen eines auf Instagram veröffentlichten Fotos von einem Urlaub in Georgien, bei dem ein Mann vor dem Hintergrund der Berge und Flaggen Georgiens und der Ukraine steht, festgenommen und zu 15 Tagen Haft verurteilt.
Gegen die 68-jährige Lyudmila Kogan wurde ein Strafverfahren wegen Schändung von Gebäuden und Sachschäden eröffnet. Die Frau schrieb an einer Haltestelle der öffentlichen Verkehrsmittel in Brest „Lang lebe Belarus“ und „Nein zum Krieg“.
Die Sängerin Meriem Gerasimenka wurde im August 2022 nach einem Konzert in einer Minsker Bar festgenommen, wo sie ein Lied der ukrainischen Gruppe „Okean Elzy“ zur Unterstützung der Ukraine sang.
In Baranawitschy wurde der Direktor eines Autoteilegeschäfts festgenommen, weil er sich geweigert hatte, die russischen Militärangehörige im Geschäft zu bedienen, und der Minsker Priester Dionisy Korostelev wurde festgenommen, weil er für die Soldaten und Verteidiger der Ukraine gebetet hatte.
Im September 2022 verhafteten Sicherheitskräfte fünf Einwohner von Minsk, weil sie große Nationalflaggen von Belarus und der Ukraine an der Fassade eines Hauses in Minsk aufgehängt hatten. Gegen sie wurde ein Strafverfahren wegen „böswilligen Rowdytums durch eine Personengruppe“ eingeleitet. Und Anfang Oktober wurden in Minsk eine weiß-rot-weiße Flagge und die Flagge der Ukraine von Unbekannten an einem Stromleitungsmast aufgehängt. Ein Beitrag mit einem Foto der Flagge und der Bildunterschrift erschien am nächsten Tag in einem der Telegram-Kanäle: „Die Einwohner von Minsk gratulieren dem ukrainischen Volk zu den wunderbaren Nachrichten von der Krimbrücke. Die Krim ist die Ukraine! Es lebe Belarus! Ruhm der Ukraine!“. Später verhafteten Polizeibeamte sechs Minsker im Alter von 34 bis 36 Jahren, die es angeblich getan hatten, und verurteilten sie zu einer Freiheitsstrafe nach dem Strafgesetzbuch.
Zu den weiteren Fällen gehört auch die Verurteilung einer Studentin wegen der Weiterleitung eines Textes, der die Handlungen von Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko zur Entfesselung des Krieges in der Ukraine scharf kritisierte, und die Festnahme eines Elektrikers in einem Homeler Geschäft, weil er die russische militärische Aggression in einem Chat öffentlich verurteilt hatte. Belarusen werden zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt, weil sie Geld an belarusische Freiwillige überwiesen haben, die an der Seite der Ukraine kämpfen. Es ist bekannt, dass ein 42-jähriger Mann etwa zweitausend Euro an die ukrainische Armee überwiesen hatte. Danach wurde er zum Gespräch in den KGB gebracht und der Finanzierung des Terrorismus beschuldigt. Seine Wohnung wurde beschlagnahmt, geschäftliche, persönliche Konten und sogar die Karte seines 10-jährigen behinderten Sohnes gesperrt. Der Mann schaffte es, sich und seine Familie außer Landes zu bringen. Doch die Sicherheitskräfte griffen seine Eltern auf: Sie fordern eindringlich, dass sie ihren Sohn zur Rückkehr ins Land überreden und drohten seiner 66-jährigen Mutter und dem 68-jährigen Vater mit Verhaftung.
Für die offene Unterstützung der Ukraine in Belarus wird man immer noch verfolgt: für öffentliche Slogans „Ruhm der Ukraine“, für die ukrainische Flagge auf dem Avatar in sozialen Netzwerken, für Kleidung und Symbole in gelben und blauen Farben, für die Aufschrift „Nein zum Krieg“ auf Kleidung, für das Niederlegen von Blumen in der Nähe der ukrainischen Botschaft in Minsk. Aber trotz der Festnahmen, Einschüchterungen und anhaltenden Repressionen unterstützen die Belarusen weiterhin das Volk der Ukraine und glauben an dessen Sieg.