Europa ist heute ein Ort, wo man genau weiß, was ‚Faschismus‘ und was ‚Extremismus‘ ist
Das Regime in Belarus erweitert regelmäßig die Listen von Personen, Organisationen und Materialien, die es als „extremistisch“ bezeichnet. Am 25. Oktober kamen zwei weitere Bücher in belarusischer Sprache hinzu. Der belarusische Schriftsteller Alherd Bacharewitsch, dessen Roman „Die Hunde Europas“ noch im Mai in die Extremismus-Liste aufgenommen wurde, schreibt über die Sprachlosigkeit der europäischen Gesellschaft zum Bücherverbot im Herzen Europas:
„Als Smizer Lukaschuks Buch „Die belarusische Nationalidee“ in Belarus als extremistisch eingestuft wurde, schwiegen sie. Schließlich ging es um den belarusischen Nationalgedanken – und sie hatten Angst vor dem Wort „Nationalismus“.
Als der Roman „Die Hunde Europas“ in Belarus als extremistisch eingestuft wurde, schwiegen sie. Schließlich war es ein belarusischer Roman – und die Belarusen haben nur das Recht, sich zu beklagen und Zeugnis abzulegen, nicht aber, dicke Romane zu schreiben.
Als eine historische Studie über die nationalsozialistische Agrarpolitik im westlichen Belarus als extremistisch eingestuft wurde, schwiegen sie. Sie hatten Angst vor dem Wort ‚Nationalsozialismus‘ und sahen, offen gesagt, keinen Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Nationalismus.
Als das Kindergedicht „Die Ballade vom kleinen Schlepper“ des jungen Joseph Brodsky in Belarus als extremistisch eingestuft wurde, schwiegen sie. Denn sie wussten nicht einmal, dass es existiert. Doch am übernächsten Tag beschlossen sie, dass es eine amüsante, kuriose Geschichte ist, der man ein paar Zeilen auf der zehnten Zeitungsseite widmen kann. Immerhin war der Dichter ein Nobelpreisträger und ein Russe. Aber sie erwähnten nicht, dass es sich um eine Übersetzung ins Belarusische handelte – weil sie nicht wussten, dass sie existiert.
Als das Buch „Aitschyna“ über die belarusische Geschichte von Arlou und Tatarnikau in Belarus als extremistisch eingestuft wurde, schwiegen sie. Schließlich ging es um belarusische Geschichte, und die ist ja immer so unecht und ausgedacht. Im Westen wird den Kindern und Studenten alles anders erzählt.
Sie lebten in freien und friedlichen demokratischen Ländern. Sie hatten große Angst vor dem Wort ‚Extremismus‘. Sie hatten große Angst vor der Geschichte und hielten das Wort ‚national‘ für ein Schimpfwort. Und in dieser Hinsicht waren sie kaum anders als diejenigen, die die Bücher verboten hatten. Sie wollten die einfachsten Antworten und Lösungen. Schweigen. Verbieten. Keine Visa ausstellen. Sperren. Stornieren. Abschaffen. Aussperren. Diskriminieren. Vergessen.
Sie waren schon immer bereit, andere über Demokratie und Meinungsfreiheit zu belehren. Ich nannte sie ‚den Westen‘ und sie nannten sich selbst „Europa“. Aber ich weiß, dass mein vergewaltigtes und misshandeltes Heimatland auch Europa ist. Europa ist die kämpfende Ukraine. Europa ist der Ort, wo Schmerz, Tod und Angst herrschen. Europa ist der Ort, wo Menschen gegen das Imperium kämpfen, wo Menschen für die Freiheit sterben und wo Tausende von Unschuldigen in Gefängnissen sitzen. Europa ist der Ort, wo Bücher geschrieben werden, die nicht vorgaukeln, dass sich nichts geändert hat. Europa ist der Ort, wo die alten Worte ihre alte Bedeutung verloren haben. Europa ist heute ein Ort, wo man genau weiß, was ‚Faschismus‘ und was ‚Extremismus‘ ist. Und wo man versteht, dass ‚Frieden‘ nicht durch Kapitulation und Kompromisse erreicht wird. Europa ist die ewige Verbannung ins Heimatland. Europa ist der Ort, wo Krieg herrscht. Mit Menschen, Nationen, Sprachen, Büchern, Werten.
Sie werden schweigen und uns lehren, wie man für die Redefreiheit kämpft, von der sie nicht die geringste Ahnung haben.
Wir sind in den letzten zwei Jahren an vielen Orten gewesen. Wir haben Menschen gesehen, die weit mehr verstehen als ihre Regierungen. Wir haben Worte der Unterstützung in vielen verschiedenen Sprachen gehört. Wir haben in verschiedenen Sprachen über das gesprochen, was in Europa geschieht. Man hat uns zugehört. Man hat unsere Worte übersetzt. Man hat uns gebeten, unsere Namen in Gästebücher einzutragen. Man hat uns umarmt. Manchmal hat man uns eingeladen, unser Leid zu klagen. Aber im Rahmen von 45 Minuten. Sonst wird es dem Publikum langweilig. Man hat zum Dialog aufgerufen.
Doch die Antwort, die am Lautesten erklang, war ihr dröhnendes Schweigen.“