„Die polnischen Grenzbeamten wollten uns lange nicht einreisen lassen“. Wie Belarusen zu doppelten Flüchtlingen werden
Aksana Dabrijanets und ihre Tochter Lera stammen aus der kleinen belarusischen Stadt Stolin. Im Jahr 2021 mussten sie vor den Repressionen durch das belarusische Regime in die Ukraine fliehen. Die Initiative August2020 erzählte, wie die junge Frau verfolgt wurde. Nach dem Beginn des Krieges wurde es gefährlich, in der Ukraine zu bleiben, und sie mussten erneut ins Ungewisse fliehen.
Aksana war die einzige in der Stadt, die Unterschriften für Swetlana Tichanowskaja gesammelt hat. Im Februar 2021 kamen Einsatzkräfte in Aksanas Haus:
– Die Durchsuchung dauerte fünf Stunden. Sie verhörten mich, durchsuchten meine Sachen und nahmen mein Handy mit Gewalt weg. Aber der wirkliche Schreck kam, als der Sozialdienst am nächsten Tag bei uns vorbeischaute. Meine Tochter ist das Wertvollste, was ich habe. Ich geriet in Panik. Ich benachrichtigte meine Bekannten und begann zu packen. Ein paar Stunden später machten meine Tochter und ich uns auf den Weg nach Minsk. Auf der Fahrt hatten wir einen doppelten Unfall: Wir schleuderten in einen Graben und wurden beim Herausfahren von einem Auto angefahren. Seltsamerweise nahm ich es damals nicht als etwas Beängstigendes wahr. Offensichtlich waren wir mit den Nerven am Ende, also warteten wir auf die Verkehrspolizei und fuhren weiter.
Am Tag nach ihrer Ankunft in der Ukraine erhielt Aksana einen Anruf von ihrem Anwalt, der ihr mitteilte, dass gegen sie ein Strafverfahren wegen Ordnungswidrigkeit eingeleitet worden sei und sie festgenommen werden solle.
– In Kiew erkrankte ich an einer Depression. Für meine Tochter war es etwas einfacher: Sie hatte Schule und Freunde, und ich blieb allein zu Hause. Es gefiel uns sehr in der Ukraine und wir beschlossen, in Kiew zu bleiben, bis die Repressionen in Belarus enden würden. Ich würde nicht sagen, dass ich mich super sicher gefühlt habe, aber die Ukraine war unser Land, in dem wir leben konnten: Es gab keine Sprachbarriere, wir bekamen problemlos Aufenthaltstitel, es gab keine Diskriminierung.
Als der Krieg begann, hatten wir genau ein Jahr lang in Kiew gelebt. In der Ukraine war ich als Journalistin tätig, ich begann mein Projekt über Kindheit in der Emigration, ich studierte viel, ich arbeitete in die Richtung meines Berufs. Aber all das löste sich plötzlich auf…
Aksana erinnert sich, dass sie wusste, dass der Krieg kommen würde, weil sie die Nachrichten verfolgt hatte:
– Alle meine Bekannten meinten, Putin wolle nur Angst machen, wir sollten ruhiger und optimistischer sein. Aber ich wusste, wozu das russische Regime fähig war, also versuchte ich, vorbereitet zu sein. Die Unruhe um uns herum wurde größer. Was uns aus dem Rhythmus brachte, waren die Evakuierungen an der Schule meiner Töchter: eine als Übung, die andere wegen eines falschen Bombenalarms.
– Nach den Evakuierungen hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Es war sehr beängstigend, dass eine echte Evakuierung wirklich stattfinden könnte. Ich weinte viel und machte mir Sorgen. Am 23. Februar, als wir zu Bett gingen, sagte ich zu Lera, dass ich am Tag darauf Wasser und Lebensmittel einkaufen würde und dass wir wahrscheinlich in der Badewanne schlafen müssten, weil der Luftschutzbunker weit weg sei. Lera war erschrocken und weinte.
Am Morgen wachte ich auf, öffnete Instagram und sah die schreckliche Nachricht:
– Ich erzählte allen Bekannten, dass ich bei Kriegsausbruch nicht in Panik geraten würde. Ich würde schnell packen, in einen Zug steigen und an einen sicheren Ort fliehen. Es stellte sich heraus, dass das einfach unrealistisch war. Ich suchte im Internet nach allen möglichen Optionen und versuchte, irgendwelche Tickets zu kaufen. Schließlich fand ich einen Evakuierungsflug des „Free Belarus Center“ und beschloss, ihn zu nehmen. Wir warteten sehr lange auf den Bus, der es wegen der riesigen Staus nicht einmal bis in die Stadt schaffte, wodurch man die Fahrt schließlich absagte. Der Ehemann der Gründerin von „Free Belarus Center“ war auf dem Weg nach Riwne, er hatte drei freie Sitze in seinem Auto, und es war eine kollektive Entscheidung, mich, meine Tochter und einen jungen Mann, der nach einer Operation an seinem Bein schlecht zu Fuß war, aus Kiew zu evakuieren.
– In Riwne fanden wir ein Auto, das uns zur nächstgelegenen Grenze brachte. An der Grenze gab es eine riesige Schlange. Um zum Kontrollpunkt zu gelangen, mussten wir mehr als 15 km zu Fuß laufen. Vor lauter Überanstrengung begann Leras Nase zu bluten. Ich machte mir Sorgen, dass, wenn ich einen Krankenwagen rufen müsste, dieser dort einfach nicht ankommen würde.
Neben dem Kontrollpunkt stand eine große Menschenmenge von Ausländern und Frauen mit Kindern. Um meine Tochter irgendwie warmzuhalten, zog ich meinen Pullover aus und zog ihn ihr über, während ich in meiner Jacke und meinem Oberteil blieb. Wir warteten lange darauf, durchgelassen zu werden. Es war sehr kalt. Ich hielt es nicht mehr aus, öffnete vor dem Grenzbeamten den Reißverschluss meiner Jacke, zeigte ihm, was ich anhatte und zeigte ihm mein Kind, eingewickelt in alle verfügbaren T-Shirts und Pullover. Erst dann hatte man Mitleid mit uns und wir durften weitergehen.
Die ukrainische Grenze überquerten wir ohne Probleme, aber die polnischen Grenzbeamten zögerten lange, uns einzulassen: Ich musste verhört werden.
Aksana erzählt, dass es am Anfang für sie in Polen einfacher war. Was sie motivierte, war das Gefühl, dass sie Glück hatten: Sie kamen ganz einfach über die Grenze und konnten sich gut in Polen einleben.
– Ich habe mich immer mit anderen verglichen und nicht auf meine Gefühle geachtet. Wie kann ich besorgt sein, wenn die Ukraine bombardiert wird? Erst im Sommer habe ich gemerkt, dass es für mich in Polen sehr schwierig ist.
– Ich erhielt internationalen Schutz und arbeite jetzt als Nageltechnikerin. Jeden Tag komme ich erst gegen 22-24 Uhr nach Hause und meine Tochter ist allein zu Hause. Das Geld, das ich verdiene, reicht nur dafür aus, um unsere Miete zu zahlen und Lebensmittel zu kaufen. Ich habe kaum freie Tage, heute ist der erste in zwei Wochen.
Aksana sagt, dass sie keine Pläne für die Zukunft schmiedet. Früher wollte sie sich weiterbilden, aber ihr wurde klar, dass sie es nicht schaffen würde, gleichzeitig zu arbeiten und zu studieren.
– Im Moment arbeite ich nur, damit wir überleben können. Natürlich möchte ich nach Belarus zurückkehren, aber ich glaube nicht, dass das so bald möglich sein wird.