Die Nobelpreisrede von Ales Bialiatski: „Heute sitzt ganz Belarus im Gefängnis“
Der Menschenrechtsverteidiger Ales Bialiatski konnte den Friedensnobelpreis nicht persönlich entgegennehmen, da er seit 17 Monaten vom belarusischen Regime im Gefängnis gehalten wird. Deshalb nahm seine Frau Natallja Pintschuk an seiner Stelle an der Zeremonie in Oslo am 10. Dezember teil und verlas eine Rede im Namen von Ales. Zum ersten Mal in der Geschichte des Preises wurde die Nobelrede auf Belarusisch gehalten:
Ihre königlichen Majestäten, Ihre königlichen Hoheiten, verehrte Mitglieder des Nobelkomitees, verehrte Gäste!
Ich habe die enorme Freude und Ehre, hier bei der Zeremonie zur Ehrung der Friedensnobelpreisträger des Jahres 2022 sprechen zu dürfen. Darunter befindet sich auch mein Ehemann Ales Bjaljazki.
Leider kann er die Auszeichnung nicht persönlich in Empfang nehmen. Er befindet sich unrechtmäßig im Gefängnis in Belarus. Das ist der Grund, warum ich hier hinter diesem Podium stehe.
Ich möchte dem norwegischen Nobelkomitee meine tiefe Dankbarkeit aussprechen, denn dessen Entscheidung hat Ales in seiner Entschlossenheit bestärkt, fest zu seinen Überzeugungen zu stehen, und gibt allen Belarusen die Hoffnung, dass sie im Kampf für ihre Rechte auf die Solidarität der demokratischen Welt zählen können, egal wie lange sie kämpfen müssen.
Vielen Dank an alle, die Ales, seine Freunde und sein Anliegen im Laufe der Jahre unterstützt haben und jetzt unterstützen.
Vom ganzen Herzen möchte ich dem Zentrum für bürgerliche Freiheiten und der Internationalen Gesellschaft „Memorial“ zu ihrer wohlverdienten Auszeichnung gratulieren. Ales und wir alle verstehen, wie wichtig und riskant es ist, die Mission von Menschenrechtsverteidigern zu erfüllen, insbesondere in der tragischen Zeit der russischen Aggression gegen die Ukraine.
Nicht nur Ales sitzt im Gefängnis, sondern Tausende von Belarusen, Zehntausende von Unterdrückten, die zu Unrecht für ihre gesellschaftlichen Aktivitäten und Überzeugungen inhaftiert wurden. Hunderttausende wurden gezwungen, das Land zu verlassen, nur weil sie in einem demokratischen Staat leben wollten. Leider wird der Krieg der Machthaber gegen das eigene Volk, die Sprache, die Geschichte und die demokratischen Werte in Belarus schon seit Jahren geführt. Ich sage dies hier mit größtem Schmerz und größter Vorsicht, denn durch die heutigen politischen und militärischen Entwicklungen droht Belarus der Verlust seiner Staatlichkeit und Unabhängigkeit.
Leider bevorzugen die Behörden den Umgang mit der Gesellschaft durch den Einsatz von Granaten, Schlagstöcken, Tasern, endlosen Festnahmen und Folter. Von einem nationalen Kompromiss oder Dialog kann keine Rede sein. Sie verfolgen Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, Minderjährige und ältere Menschen. In den belarusischen Gefängnissen herrscht das unmenschliche Gesicht des Systems, vor allem für diejenigen, die davon träumten, freie Menschen zu sein!
Angesichts dieser Situation ist es kein Zufall, dass die Behörden Ales und seine Gefährten vom Menschenrechtszentrum „Viasna“ wegen ihrer demokratischen Überzeugungen und ihrer Menschenrechtsarbeit verhaftet haben. Marfa Rabkowa, Waljanzin Stefanowitsch, Uladsimir Labkowitsch, Leanid Sudalenka, Andrej Tschapjuk und andere Menschenrechtsaktivisten wurden hinter Gittern eingesperrt. Gegen viele Menschenrechtsverteidiger wird immer noch ermittelt und sie werden von der Staatsanwaltschaft angeklagt, während einige gezwungen wurden, ins Ausland auszuwandern. Aber das Menschenrechtszentrum „Viasna-96“, das vor mehr als 25 Jahren von Ales und seinen Gleichgesinnten gegründet wurde, „kann niemand zerbrechen, stoppen oder zurückhalten“!
Ales war nicht in der Lage, den Text seiner Rede aus dem Gefängnis zu übermitteln, aber er gelang ihm, mir ein paar Worte zu sagen. Deswegen werde ich seine Gedanken mit Ihnen teilen — sowohl diese als auch jene, die er zuvor aufgeschrieben hatte. Dies sind Fragmente seiner früheren Aussagen, Schriften und Überlegungen. Hier sind seine Überlegungen zur Vergangenheit und Zukunft von Belarus, zu den Menschenrechten, zum Schicksal von Frieden und Freiheit.
Und nun gebe ich das Wort an Ales weiter.
Tatsächlich sind die Menschen, die die Freiheit am meisten schätzen, oft diejenigen, denen sie vorenthalten wird. Ich erinnere mich an meine Freunde — Menschenrechtsverteidiger aus Kuba, Aserbaidschan, Usbekistan, ich erinnere mich an meine Seelenschwester Nasrin Sotoudeh aus dem Iran. Ich bewundere den Kardinal Joseph Zen aus Hongkong. Tausende von Menschen in Belarus befinden sich jetzt aus politischen Gründen hinter Gittern, und sie alle sind meine Brüder und Schwestern. Nichts kann den Durst der Menschen nach Freiheit aufhalten. Heute sitzt ganz Belarus im Gefängnis. Dort sitzen Journalisten, Politikwissenschaftler, Gewerkschaftsführer, unter ihnen sind viele meiner Freunde und Bekannten… Die Gerichte arbeiten wie ein Fließband, die Verurteilten werden in die Kolonien gebracht, und an ihre Stelle rücken neue Wellen von politischen Gefangenen.
Dieser Preis gehört all meinen Menschenrechtsfreunden, allen Bürgerrechtlern, Zehntausenden von Belarusen, die Schläge, Folter, Verhaftungen und Gefängnisse erleiden mussten. Dieser Preis gehört den Millionen von belarusischen Bürgern, die sich für ihre Bürgerrechte eingesetzt haben. Er beleuchtet die dramatische Situation und den Kampf um die Menschenrechte in dem Land.
Ich hatte kürzlich einen kurzen Austausch.
„Wann kommen Sie frei?“ , fragte man mich.
„Ich bin ohnehin frei, in meiner Seele“, antwortete ich.
Meine freie Seele schwebt über dem Kerker und über dem ahornblattförmigen Umriss von Belarus.
Ich schaue in mich hinein, und meine Ideale haben sich nicht verändert, haben ihren Wert nicht verloren, sind nicht verblasst. Sie sind immer bei mir, und ich beschütze sie, so gut ich kann. Sie sind wie aus Gold gegossen, sie können nicht verrosten.
Wir wollen unsere Gesellschaft harmonischer, gerechter und reaktionsfähiger gestalten. Ein unabhängiges, demokratisches Belarus erreichen. Wir träumen davon, dass es behaglich und einladend zum Leben sein wird. Es ist eine edle Idee, die mit den globalen Vorstellungen von Zivilität übereinstimmt. Wir träumen nicht von etwas Besonderem oder Außergewöhnlichem, wir wollen einfach nur „Menschen genannt werden“, wie unser Klassiker Janka Kupala zu sagen pflegte. Dazu gehört Respekt für sich selbst und andere, die Menschenrechte, eine demokratische Lebensweise, die Anerkennung der belarusischen Sprache und unserer Geschichte.
Ich glaube daran, denn ich weiß, dass die Nacht vergeht und der Morgen kommt. Ich weiß, was uns unaufhaltsam vorwärtstreibt, das ist die Hoffnung und der Traum.
Martin Luther King bezahlte für seinen Traum mit seinem Leben, er wurde erschossen. Meine Bezahlung für meinen Traum ist zwar nicht so hoch, aber ich muss sie dennoch zahlen. Ich bereue es nicht im Geringsten. Denn mein Traum ist es wert. Meine Ideale stimmen mit denen meiner älteren Freunde und geistigen Lehrer überein: des Tschechen Vaclav Havel und des Belarusen Wassil Bykau. Beide haben im Leben große Herausforderungen durchgemacht, beide haben viel für ihre Völker und ihre Kulturen getan, beide haben bis zum letzten Moment ihres Lebens für Demokratie und Menschenrechte gekämpft.
Auf einem leeren Feld kann man nicht sofort eine gute Ernte erwirtschaften. Man muss das Feld gut düngen, die Steine entfernen… Und das, was die kommunistische Regierung nach 70 Jahren Herrschaft in Belarus hinterlassen hat, kann man als verbrannte Erde bezeichnen… In den späten 1980er Jahren gab es Zeiten, in denen wir uns alle buchstäblich vom Sehen her kannten… Doch in den frühen 1990er Jahren gab es Tausende und Zehntausende von uns…
Am 9. August 2020 fanden in Belarus Präsidentschaftswahlen statt. Massenhafte Betrugsfälle zwangen die Menschen, auf die Straße zu gehen. Das Gute und das Böse trafen in einem Duell aufeinander. Das Böse war gut bewaffnet. Und auf der Seite des Guten gab es nur friedliche Massenproteste, die es in diesem Land noch nie gegeben hatte und an denen Hunderttausende Menschen teilnahmen.
Als Reaktion darauf brachten die Behörden mit voller Wucht einen Repressionsmechanismus mit Folter und Mord in Gang — zu dessen Opfern wurden Raman Bandarenka, Witold Aschurak und viele andere.
Dies ist der höchste und unvorstellbar härteste Grad der Repressionen. Die Menschen werden grausamer Folter und unvorstellbarem Leid ausgesetzt.
Die Zellen und Gefängnisse erinnern eher an die sowjetischen öffentlichen Toiletten, wo Menschen über Monate und Jahre festgehalten werden. Ich bin kategorisch dagegen, dass Frauen im Gefängnis sitzen, aber stellen Sie sich ihre Haftbedingungen in Belarus vor — in dieser Abteilung der Hölle auf Erden!
Lukaschenkos Äußerungen bestätigen, dass seine Einsatzkräfte einen Freifahrtschein haben, um die Menschen durch Angst aufzuhalten. Aber die Bürger von Belarus fordern Gerechtigkeit. Sie fordern, dass diejenigen, die Massenverbrechen begangen haben, bestraft werden sollten. Sie fordern freie Wahlen. Belarus und die belarusische Gesellschaft werden nie wieder so sein wie früher, als sie an den Händen und Füßen gefesselt waren. Die Menschen sind aufgewacht…
Jetzt hat sich der ständige Kampf zwischen Gut und Böse in fast reiner Form in der ganzen Region entfaltet. Der kalte Wind aus dem Osten prallte auf die Wärme der europäischen Renaissance.
Es reicht nicht aus, gebildet und demokratisch zu sein; es reicht nicht aus, menschlich und barmherzig zu sein. Wir müssen in der Lage sein, unsere Errungenschaften und unser Heimatland zu verteidigen. Nicht umsonst wurde im Mittelalter der Begriff des Heimatlandes mit dem Begriff der Freiheit verbunden.
Ich weiß genau, welche Art von Ukraine Russland und Putin gefallen würde — eine abhängige Diktatur. Genauso, wie das heutige Belarus, wo die Stimme des unterdrückten Volkes nicht gehört wird.
Die russischen Militärbasen, die enorme wirtschaftliche Abhängigkeit, die kulturelle und sprachliche Russifizierung — das beantwortet die Frage, auf wessen Seite Lukaschenko steht. Die belarusischen Machthaber sind nur in dem Maße unabhängig, wie Putin es ihnen erlaubt. Folglich muss die „Internationale der Diktaturen“ bekämpft werden.
Ich bin ein Menschenrechtsaktivist und daher ein Befürworter des gewaltlosen Widerstands. Ich bin von Natur aus kein aggressiver Mensch, ich versuche immer, mich angemessen zu verhalten. Ich erkenne jedoch an, dass das Gute und die Wahrheit in der Lage sein müssen, sich zu verteidigen. So gut ich kann, bewahre ich den Frieden in meiner Seele, pflege ihn wie eine zarte Blume und verbanne den Zorn. Und ich bete, dass die Realität mich nicht dazu zwingen wird, eine längst vergrabene Axt wieder auszugraben und die Wahrheit mit einer Axt in den Händen zu verteidigen. Frieden. Möge der Frieden in meiner Seele bleiben.
Und am 10. Dezember möchte ich für alle wiederholen: „Habt keine Angst!“ Diese Worte sprach Papst Johannes Paul II. in den 1980er Jahren, als er das kommunistische Polen besuchte. Er hat damals nichts weiter gesagt, aber das hat gereicht. Ich glaube daran, weil ich weiß, dass nach dem Winter immer der Frühling kommt.
Das waren Zitate von Ales Bialiatski. Und ich werde meine Rede mit den Ausrufen seiner Seele abschließen:
Freiheit für das belarusische Volk! Freiheit für „Viasna“! Es lebe Belarus!
Copyright © Nobelstiftung, Stockholm, 2022
Gemeinsam mit Ales Bialiatski, dem Vorsitzenden des Menschenrechtszentrums „Viasna“, wurde der diesjährige Friedensnobelpreis an das ukrainische Zentrum für bürgerliche Freiheiten und die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ verliehen. Der belarusische Menschenrechtsverteidiger wurde dieses Jahr zum sechsten Mal für den Friedensnobelpreis nominiert. Ales ist der dritte Preisträger, der den Friedensnobelpreis erhält, während er hinter Gittern sitzt. Wegen seiner langjährigen Menschenrechtsarbeit befindet sich Ales seit dem 14. Juli 2021 — also bereits seit 17 Monaten — in Gefangenschaft. Der Menschenrechtler und seine Kollegen werden beschuldigt, in den Jahren 2016-2020 „Schmuggelaktivitäten durch eine organisierte Gruppe“ betrieben zu haben, sowie während der Massenproteste nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 „aktive Gruppenaktionen, die die öffentliche Ordnung grob stören“, finanziert zu haben.