Fünf Gründe, warum das Konzept der Menschenrechte immer noch funktioniert
Heute wird es immer schwieriger, an das Konzept der Menschenrechte zu glauben. Internationale Institutionen hören nicht auf, Besorgnis auszudrücken, aber viele Menschen verstehen diesen Satz nun eher als Ausdruck der Hilflosigkeit von Menschenrechtsorganisationen angesichts der Staatsverbrechen in mehreren Ländern. Die belarusischen Menschenrechtler*innen von „Viasna“ erzählen, warum das Menschenrechtskonzept ihrer Meinung nach immer noch funktioniert, was sie ermuntert, sich für die Werte der Menschenrechte einzusetzen, und welche Mittel zur Förderung dieser Werte sie für besonders wirksam halten.
1. Werteorientierung
Durch Verinnerlichung des Systems der Menschenrechte erhält man eine solide Wertebasis und kann so für sich die Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders skizzieren, nach denen jede und jeder Einzelne besser leben kann als ohne sie. Menschenrechte betonen den Wert jeder Person, lehren Respekt für andere. In einem Paradigma, in dem jeder konkrete Mensch mit seinem Universum im Mittelpunkt von allem steht, rückt seine menschliche und persönliche Würde in den Vordergrund. Dies macht das Konzept sowohl für jede*n Einzelne*n als auch für die Gesellschaft als Ganzes wichtig und anwendbar. Die Menschenrechtsbildung ist eine Art Impfung, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Repressionen und Kriege verhindert.
„Menschenrechte verkörpern eine humanistische Philosophie. Sie ermöglicht uns ein friedvolles Miteinander.“
Kanstanzin Staradubez, Menschenrechtler von „Viasna“, internationale Beziehungen, Advocacy.
Laut dem jährlichen Bericht von Freedom House sinkt das Maß an Freiheit in der Welt zum 17. Mal in Folge und nur 84 von 195 Ländern sind frei. Der soziale, politische und wirtschaftliche Fortschritt hängt direkt von der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte ab. In Demokratien lebt man besser und länger. Menschen sind nachweislich glücklicher dort, wo Freiheiten und Rechte wirklich respektiert werden. Denn es ist etwas, wofür es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.
Menschenrechte verkörpern eine humanistische Philosophie. Sie ermöglicht uns ein friedvolles Miteinander. Wer nach den Menschenrechten lebt, wird menschlicher und offener. Für mich persönlich sind das die Werte, die der alltäglichen Kommunikation mit Menschen und dem Staat zugrunde liegen sollten. Weltweit, aber vor allem in Ländern, die gerade aus der autokratischen Narkose erwachen, gilt es, den Menschen regelmäßig und systematisch die Vorteile von Menschenrechten und demokratischer Ordnung vor Augen zu führen. Ohne die Einführung dieser Werte in das Bildungssystem kann der Prozess nicht effektiv sein. Hier spielt die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle. So sollten auch die Staatsorgane des künftigen posttotalitären Belarus sicherstellen, dass sich Menschenrechtler*innen an der Umstellung auf ein gesamtnationales Weltbild auf der Grundlage der Menschenrechte aktiv beteiligen.
2. Dokumentation
Ein großer Teil der menschenrechtlichen Arbeit ist heute die Dokumentation zahlreicher Menschenrechtsverletzungen. Um zu behaupten, dass der Staat Menschen foltert, muss man verstehen, was Folter und grausame, unmenschliche Behandlung sind, und diese Fälle dokumentieren. Um festzustellen, dass die Wahlen im Land manipuliert wurden, muss man die Regeln eines transparenten Wahlverfahrens kennen und deren Einhaltung beobachten, um Verletzungen zu erkennen und aufzuzeichnen. Um zu erklären, dass die Menschen im Land der Rede- und Versammlungsfreiheit beraubt sind und ihre Verfolgung politisch motiviert ist, muss man nicht nur verstehen, was hinter diesen Konzepten steckt, sondern auch alle vorkommenden Fälle festhalten, um das Ausmaß der Repression genau einzuschätzen.
„Ich sollte keine Angst vor meinem Staat haben, ich habe mir zustehende Rechte und bin selbst ein kritisch wichtiger Akteur innerhalb des Staates.“
Ljubou Lanina, Menschenrechtlerin von Viasna, Freiwilligendienst.
Menschenrechte sind wie Postulate: Man kann mit ihnen seine Wahrnehmung von Gerechtigkeit und Würde ausdrücken, aber auch sich auf sie vor Gericht berufen. Das Konzept der Menschenrechte erklärt, dass ich keine Angst vor meinem Staat haben sollte, sondern dass ich mir zustehende Rechte habe und selbst ein kritisch wichtiger Akteur innerhalb des Staates bin. Da internationale Instrumente, die Menschenrechte verankern, als Ergebnis der Rechtsverletzung durch den Staat entstanden sind, schätze ich dieses Konzept gerade als ein System, das Wissen darüber vermittelt, was Freiheiten und Rechte sind und wie man sie nutzt und schützt. Das Konzept der Menschenrechte gehört für mich in unserer Welt nicht nur in den juristischen Bereich, es geht auch um Werte, die in Kindergärten, am Arbeitsplatz, an der Universität vermittelt werden sollten. Ich möchte, dass Menschen mehr über die Menschenrechte erfahren, und glaube aufrichtig, dass dies das Leben zum Besseren verändern und zum Empowerment beitragen kann. Ich sehe meine Aufgabe in der Förderung der Menschenrechte und einer darauf basierenden Herangehensweise.
3. An alles denken
In einer Zeit, wenn selbst unveräußerliche Menschenrechte wie Freiheit von Folter und Sklaverei massiv verletzt werden, vergisst man leicht diejenigen, die vergleichsweise nicht so grundlegend erscheinen. Aber dank dem Menschenrechtskatalog und den von Staaten in verschiedenen Bereichen verabschiedeten Erklärungen ist es immer möglich, „die Uhren abzugleichen“ und mithilfe der Standards zu überprüfen, welche ebenso wichtigen Themen in diesen Zeiten zu kurz kommen. Wird etwa das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard verwirklicht? Und auf Teilhabe am kulturellen Leben? Wird den Problemen von Menschen mit Behinderungen und Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt? Die politischen Repressionen sind in Belarus drastisch verschärft, aber dies hebt ja zahlreiche andere Probleme nicht auf, die ebenfalls angegangen werden müssen.
„Im Leben sollte jeder Mensch Respekt erfahren, unabhängig von Geschlecht, Alter, Nationalität oder Hautfarbe.“
Alena Masljukowa, Menschenrechtlerin.
Nach wie vor sind wir überall auf der Welt mit Menschenrechtsverletzungen konfrontiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Konzept der Menschenrechte nicht funktioniert. Nachdem wir erkannt haben, dass jeder Staat weltweit unsere Rechte verletzen kann, ist es auch wichtig zu verstehen: Menschenrechte müssen systematisch und konsequent erkämpft werden, es ist notwendig, einen Staat, ein politisches System, eine Zivilgesellschaft aufzubauen, in der Menschenrechte zum bedeutendsten Wert werden.
Mein Vater hat oft mit mir über verschiedene Themen gesprochen, was ich als Kind gar nicht als Einführung in die Menschenrechte wahrgenommen habe. Es waren Gespräche darüber, was gut und was schlecht ist. Und es hat mich für den Rest meines Lebens geprägt. Erst als Erwachsene habe ich den Sinn von alledem verstanden, was Papa und ich dikutiert haben: Im Leben sollte jeder Mensch Respekt erfahren, unabhängig von Geschlecht, Alter, Nationalität oder Hautfarbe. Die effektivste Methode, das Menschenrechtskonzept zu fördern, war, ist und bleibt meiner Meinung nach die Erziehung von klein auf zur Achtung der Menschenrechte, die lebenslange Menschenrechtsbildung. Sehr wirksam sind darüber hinaus die Popularisierung der Menschenrechte durch Medien und natürlich Vorbilder wie Eleanor Roosevelt oder Nelson Mandela, herausragende Menschenrechtler*innen, die uns mit ihrem Leben und ihrer Arbeit ein Beispiel geben. Für uns Belarus*innen sind unbedingt ein Vorbild Ales Bialiatski, Waljanzin Stefanowitsch, Marfa Rabkowa, Uladsimir Labkowitsch und alle politischen Gefangenen, die auch hinter Gittern Mut und Kraft hatten und haben, ihre Rechte zu einzufordern. Ich meine damit sowohl inhaftierte herausragende belarusische Politiker*innen, Menschenrechtler*innen als auch einfache Bürger*innen.
4. Öffentlichkeitsarbeit
Dank der Arbeit von Menschenrechtler*innen werden Menschenrechtsverletzungen der Gesellschaft und internationalen Institutionen bekannt. Es geht nicht nur um Meldungen über Gerichtsverfahren oder Geschichten politischer Gefangener, die in Medien erscheinen; es werden auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen erstellt, Informationen über die Haftbedingungen regelmäßig gesammelt, die Kommunikation mit Sonderberichterstatter*innen geführt, Vorträge gehalten. Menschenrechtler*innen hören nicht auf, auf verschiedenen Ebenen laut über die Probleme ihres Landes zu sprechen; das lässt die Menschen nicht mit ihren Problemen allein und zwingt die Welt, Menschenrechtsverletzungen zu beachten und darauf zu reagieren – auch wenn nicht immer so schnell, wie wir es uns wünschen.
„Ich stelle mir das Konzept der Menschenrechte als Maßstab vor, den die Gesellschaft an eine Situation anlegen und verstehen kann, ob das, was passiert, normal ist.“
Swiatlana, Rechtsanwältin und Menschenrechtlerin.
Menschenrechte sind ein Satz grundlegender Ideen, die uns helfen, jeden einzelnen Menschen in dieser großen Welt nicht zu vernachlässigen und die Menschenwürde zu schützen.
Am wirksamsten finde ich eine umfassende Werbung für Werte. Nicht jeder und jede wird vielleicht sogar an einer Grundlagenbildung zu Menschenrechten interessiert sein, aber es ist wichtig, einfache Prinzipien des Respekts für jede*n Einzelne*n zu vermitteln und zur Anerkennung der Anderen in jeder Handlung zu erziehen. Die Prinzipien der Menschenrechte sind sehr einfach, aber um sie einzuhalten, sind manchmal schwierige Entscheidungen erforderlich. Damit die Menschenrechte funktionieren, müssen deswegen der Staat, zivilgesellschaftliche Organisationen und die internationale Gemeinschaft komplexe Lösungen erarbeiten. Wenn wir nicht wollen, dass schutzbedürftige Gruppen, Teile der Gesellschaft oder auch wir selbst benachteiligt werden, müssen wir uns damit befassen. Ich glaube, auch wenn rechtliche Verfahren nicht direkt zum Ergebnis führen, wird dadurch auf jeden Fall der Druck aufgebaut.
5. Rechenschaftsziehung
Warum müssen wir möglichst viele Menschenrechtsverletzungen dokumentieren? Denn bei der Anwendung völkerrechtlicher Normen, anders als derzeit in belarusischen Gerichten, gilt die Unschuldsvermutung. Um die Verantwortlichen für ihre Verbrechen völkerrechtskonform zur Rechenschaft zu ziehen, ist also der Nachweis ihrer Schuld erforderlich. Deshalb leisten Menschenrechtler*innen aller Länder jetzt einen großen Beitrag zu den zukünftigen Nürnberger Prozessen, damit sich kein Täter und keine Täterin der Verantwortung entziehen können.
„Vielleicht war es gerade den Weltkriegen zu verdanken, bei denen die Menschlichkeit und das Gute die dunklen Mächte besiegt haben.“
Siarschuk Sys, Menschenrechtler und Journalist.
Zum Beispiel wurde nach dem Ersten Weltkrieg, im Jahr 1919, der Völkerbund gegründet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war dann die Menschheit 1948 reif, um die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu verabschieden. Und es ist auch verständlich, warum: Die Gesellschaft unseres Planeten, die die Gewalt und die schrecklichen Jahre der Kriege überlebt hat, ist viel vorsichtiger und humaner geworden. Leider werden historische Lektionen manchmal vergessen. Wir haben nun neue Kriege, wir haben Tyranneien … auch in Belarus. Ich glaube, dass dies alles nur vorübergehend ist: Es gibt nur einen Weg, den Namen Homo Sapiens zu Recht zu tragen. Und dieser Weg ist es, sich tagtäglich, routinemäßig für die Rechte einzusetzen, die das Leben selbst und die Zivilisation uns nahe legen.
Man sollte nicht vergessen, dass zuletzt die Menschenrechtskrise nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer vorübergehenden Regelung der Situation in der Welt geführt hat. Die Länder haben sich gemeinsam einer Ordnung verpflichtet, die fast ein Jahrhundert lang einen relativen Frieden gesichert hat. Vielleicht hat auch die aktuelle Krise diejenigen Schwachstellen im Konzept der Menschenrechte aufgezeigt, die künftig verbessert werden sollten, damit dieses System neue Kriege verhindern kann – und auch jedem einzelnen Menschen helfen, der mit seinen Problemen nicht allein gelassen werden sollte.