Massenverhaftungen und Entlassungen: Wie Ärztinnen und Ärzte in Belarus verfolgt werden
Trotz des katastrophalen Ärztemangels im Land führen die Behörden sowohl in staatlichen medizinischen Einrichtungen als auch in Privatkliniken weiterhin „Säuberungen“ durch. Hunderte von Ärztinnen und Ärzten sind seit 2020 brutalen Repressionen ausgesetzt: sie wurden wegen ihrer „falschen“ Ansichten entlassen, wegen der Teilnahme an Protesten und der „Verbreitung von Extremismus“ verhaftet, in Strafverfahren vor Gericht gestellt, und jetzt ist eine große Anzahl von ihnen gezwungen, Belarus aufgrund von Verfolgung zu verlassen.
Das Menschenrechtszentrum „Viasna“ berichtet von der Verfolgung von Ärztinnen und Ärzten und der Gastroenterologe Aljaksandr Trafіmau teilt die Geschichte seiner Inhaftierung und Ausreise aus dem Land sowie kommentiert die aktuelle Situation zu Repressionen und zur Politik des Gesundheitsministeriums.
Wie und wofür werden Ärztinnen und Ärzte von der Regierung verfolgt?
Laut „Viasna“ wurden seit Beginn des Wahlkampfs 2020 mindestens 35 Ärztzinnen und Ärtzte in politischen Strafverfahren verurteilt, von denen 15 jetzt im Gefängnis sitzen. Darüber hinaus durchliefen Dutzende der Ärztinnen und Ärzte Inhaftierungen, Verwaltungsgerichte wegen der Ordnungswidrigkeiten und „Tage“ unter unmenschlichen Bedingungen in Haftanstalten in ganz Belarus.
Die Behörden versuchen auf verschiedene Weise, Ärztinnen und Ärzte zum Schweigen zu zwingen und schüchtern sie ein. So wurden beispielsweise in einem Monat, nachdem der politische Gefangene Viktar Babaryka im April 2023 mit Anzeichen von Schlägen aus der Kolonie ins Stadtkrankenhaus Nawapolazk eingeliefert worden war, mindestens fünf Ärztinnen und Ärzte festgenommen. Der Grund für die Massenrepressionen in diesem Krankenhaus war die Weitergabe von Informationen über Babarykas Zustand.
„Nach dem Verhör fand ich mich in der Haftanstalt in Handschellen wieder.“ Geschichte eines Gastroenterologen
Aljaxandr Trafimau ist ein Gastroenterologe, ehemaliger stellvertretender Leiter der Notaufnahmestation in Baranawitschi.
Laut der vereinten Zeitung „Nash Krai“ von Baranawitschi schlossen sich die Ärztinnen und Ärzte der Notaufnahmestation im März 2020 in einer schwierigen epidemiologischen Situation dem Flashmob # StayHome an. Das Bild zeigt das Stationspersonal in Uniformen und Masken. Sie halten Papierblätter, auf denen der Text ihres Appells auf Belarusisch abgedruckt ist: „Wir bleiben bei der Arbeit, um Ihnen zu helfen — Sie bleiben zu Hause, um uns zu helfen!“.
Im Juni 2021 kamen Polizeibeamte zu Aljaxandrs Arbeitsstelle, überprüften sein Handy auf das Vorhandensein von „extremistischem Material“, führten dann eine Durchsuchung durch, bei der nichts „Verbotenes“ im Haus gefunden wurde, die Ausrüstung wurde nicht mitgenommen. Aljaxandr beschloss jedoch, zurückzutreten, in der Hoffnung, in Ruhe gelassen zu werden.
«Im Sommer 2022 kamen bei ihm zwei Mitarbeiter vorbei, die sich als Kriminalpolizeibeamten auswiesen, und luden Aliaksandar zu einem Gespräch in ihrer Abteilung ein. „Ich dachte nicht, dass es eine Inhaftierung geben würde, also ging ich ohne Sachen, in einem Hemd, in Hosen und Schuhen. Ich plante, nach der Polizei zur Arbeit zu fahren“. Aber die Vernehmung verzögerte sich. — Sie dauerte fünf Stunden lang. „Nach der Vernehmung fand ich mich in der Haftanstalt in Handschellen wieder.“
Infolgedessen wurde der Arzt drei Tage lang in der Haftanstalt von Baranawitschi als Verdächtiger in einem unbekannten Strafverfahren festgehalten — er wurde nie angeklagt.
Hilfe für politische Gefangene und ukrainische Familien
Im Jahr 2021 half Aljaxandr kinderreichen Familien, in denen Männer als politische Gefangene zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Darüber hinaus begann Aljaxandr 2022 nach dem Beginn der groß angelegten russischen Invasion der Ukraine, ukrainischen Familien zu helfen, die die besetzten Gebiete auf dem Weg nach Europa durch Belarus verließen.
„Natürlich sind auch diese Informationen durchgesickert. Da im Hof Autos mit ukrainischen Kennzeichen standen. Im Herbst tauchten Informationen auf, dass sie begannen, zu Freiwilligen zu kommen, die solchen Familien helfen. Dann gab es im November wieder Massenverhaftungen von den Mediziner*innen, darauf folgten die Vorladungen. Und wir hatten das Gefühl, dass es nicht sicher war, im Land zu bleiben und beschlossen, auszureisen.“
Jetzt arbeitet Aljaxandr in Polen und hilft Kollegen und Kolleginnen, die aus Belarus kommen, sich in einem neuen Land niederzulassen.
„Mediziner*innen sind es bereits gewohnt, unter Druck zu arbeiten“
Laut dem Arzt wirkt sich die politische Situation in Belarus sehr individuell auf die Ärztinnen und Ärzte aus: jemand arbeitet weiter und „akzeptiert“ die aktuelle Regierung, und jemand bereitet sich auf einen Umzug vor.
„Niemand mag dieses ganze System, nicht nur politisch, sondern auch die Politik des Gesundheitsministeriums. Es ist nur so, dass darüber nicht geredet wird. Diejenigen, die etwas mutiger und verzweifelter sind, verlassen Belarus und versuchen sich im Westen zu behaupten. Mediziner*innen sind bereits gewohnt, unter Druck zu arbeiten, weil das Gesundheitsministerium und einzelne Führungskräfte auf diesem Gebiet häufig Kritik und negatives Feedback über die Qualität ihrer Arbeit ausüben, obwohl die meisten Ärztinnen und Ärzte mehr als eine Vollzeit arbeiten.“
„Die Politik unseres Landes ist für den Personalmangel verantwortlich“
Jeden Monat nimmt der Ärztemangel im Land weiter zu. In letzter Zeit verlassen immer mehr Fachkräfte Belarus und gehen zur Arbeit nach Europa. Das entscheiden nicht nur junge Fachkräfte, sondern auch Menschen mit umfangreicher medizinischer Erfahrung. Aliaksandar stellt fest, dass erfahrene Ärztinnen und Ärzte, die ihre Erfahrungen mit ihren jungen Kollegen teilen könnten, Belarus verlassen. Daher wird es viele Jahre dauern, bis es dem Gesundheitsministerium gelingt, den Fachkräftemangel zu beheben. In Belarus macht sich der Mangel am medizinischen Personal nicht nur in kleinen, sondern auch in großen Städten bemerkbar — es wird für die Menschen schwieriger, Hochspezialisierte Spezialist*innen zu finden. Daher wachsen die Warteschlangen zu den Fachärzten*innen und für die Chirurgie jetzt rasant.
„Die Last des Ärztemangels wird auf die Übriggebliebenen umverteilt“
Bei einem so großen Fachkräftemangel müssen die verbliebenen Ärztinnen und Ärzte über die Norm hinaus arbeiten. Mediziner*innen stellen sich regelmäßig mehr als 24 Stunden hintereinander der Arbeit und unzureichenden Pausen zwischen den Schichten. Gleichzeitig wird ein erheblicher Teil der Überstunden des medizinischen Personals nicht bezahlt.
Aljaxandr weist darauf hin, dass die Fehlerwahrscheinlichkeit um so höher ist, je größer die Belastung und Verantwortung einer Ärztin oder eines Ärztes ist. Darüber hinaus sammelt sich aufgrund so einer hohen Arbeitsbelastung bei Ärztinnen und Ärzten Müdigkeit an und es kommt häufig zu einem Burnout. Dies wirkt sich sowohl auf die Familien der Mediziner*innen als auch auf die Patientinnen und Patienten aus.
Überprüfung der Handys von Ärztinnen und Ärzten, Überwachung ihrer sozialen Netzwerke
„Heute gibt es in den Gesundheitsstrukturen, sei es eine Poliklinik oder ein Krankenhaus, Extra-Personal, das die Atmosphäre, die Stimmung und das Verhalten der Ärztinnen und Ärzte überwacht. Wenn es aktivere Mediziner*innen gibt, werden präventive Gespräche mit ihnen geführt. Daher ist es schwer, unter solchen Bedingungen zu arbeiten.“
Gleichzeitig überwachen Polizeibeamte die sozialen Netzwerke der Ärztinnen und Ärzte. Gespräche werden mit jenen Ärztinnen oder Ärzten geführt, die jemanden mit ihrer Meinung beeinflussen können.
„Die Wahlen waren ein weiterer Auslöser“
Die Situation mit der Verfolgung von Ärztinnen und Ärzten begann sich 2020 während der Pandemie zu erhitzen, als das Gesundheitsministerium nicht bereit war, COVID-19 zu bekämpfen. Davon sind nicht nur tausende Menschen, sondern auch die Ärztinnen und Ärzte selbst zu Schaden gekommen.
„Dann haben sich die Mediziner*innen erlaubt, das Vorgehen des Gesundheitsministeriums zu kritisieren. Da es schwierig war, haben wir selbst nach persönlicher Schutzausrüstung gesucht, und die Menschen haben uns auch geholfen, wofür wir ihnen sehr dankbar sind. Die Wahlen waren ein weiterer Auslöser. Das war die Gewalt, die jeder gesehen hat. Aber die Mediziner*innen sahen nicht nur die Gewalt, viele halfen denen, die unter Schlagstöcke und Kugeln fielen. Das heißt, die Ärztinnen und Ärzte sahen das wahre Bild. Deshalb gab es Märsche von Mediziner*innen in weißen Kitteln und die Solidaritätsketten.“
Laut Aljaxandr sehen Mediziner*innen aufgrund ihrer Kompetenz, der täglichen Kommunikation mit Menschen, angesichts von Schmerzen, Angst und Tod alles etwas tiefer und anders. Daher sind Ärztinnen und Ärzte selbstständiger und mutiger, was Ihnen sich zu äußern lässt. Das Regime sieht darin eine Bedrohung, deshalb will es keine Mitarbeiter*innen mit gegensätzlichen Ansichten in medizinischen Einrichtungen haben.
Wer von den Mediziner*innen sitzt derzeit hinter Gittern?
- Politischer Gefangener Andrej Ljubzkі — 2 Jahre, 6 Monate und 7 Tage im Gefängnis
Andrej arbeitete 18 Jahre als Kieferchirurg in einem Kinderkrankenhaus in Minsk. Er war ein Freiwilliger in der Nähe der Haftanstalt Akrestsina. Er wurde nach vier Artikeln des Strafgesetzbuches angeklagt.
- Tatsiana Talochka — drei Jahre eines Hausarrests
Tatsiana ist eine Anästhesistin und Notfallmedizinerin. Sie wurde direkt an ihrem Arbeitsplatz im Krankenhaus festgenommen. Im August 2020 rettete die politische Gefangene einen Teenager Zimur Mizkewitsch vor Verfolgung, der nach Schlägen durch Sicherheitskräfte ins Koma fiel. Sie unterschrieb die Papiere, dass er nicht verhört werden durfte, die aber von der Chefärztin nicht unterschrieben wurden. Jetzt kämpft der 19-jährige Junge in der Ukraine im Kastus-Kalinouski-Regiment.
- Arzjom Sarokіn — zwei Jahre in einer Strafkolonie mit einem Aufschub von einem Jahr
Arzjom ist ein Anästhesist am Notfallkrankenhaus in Minsk. Arzjom sowie die TUT.BY-Journalistin Katsiaryna Barysewitsch wurden wegen der Offenlegung eines medizinischen Geheimnisses angeklagt, das im Zusammenhang mit der Veröffentlichung medizinischer Dokumente über den Verstorbenen an den Verletzungen Raman Bandarenkaschwerwiegende Folgen hatte. Die in diesen Dokumenten enthaltenen Informationen widerlegen die Aussagen der Beamten, dass Raman Bandarenka zum Zeitpunkt des Schlagens betrunken war.
- Politische Gefangene Wolga Baruschka — 1 Jahr, 1 Monat und 21 Tage in Haft
Wolga ist eine Anästhesistin und Notfallmedizinerin am wissenschaftlichen und praktischen Zentrum für Chirurgie, Transplantologie und Hämatologie in Minsk. Ihr wurde vorgeworfen, einen Regierungsbeamten und einen Richter beleidigt zu haben.
- Politischer Gefangener Jaugen Buschynski — 1 Jahr, 5 Monate und 3 Tage im Gefängnis
Jaugen ist ein Arzt für Ultraschalldiagnostik. Er wurde wegen seiner Kommentare im Internet festgenommen und zu sechs Jahren Haft in einer Hochsicherheitsstrafkolonie verurteilt.
- Politischer Gefangener Uladzislau Martsinovich — 2 Jahre, 11 Monate und 23 Tage im Gefängnis
Uladzislau ist ein ehemaliger Student des 4. Jahres der Belarusischen Staatlichen Medizinischen Universität. Dem jungen Mann wurde vorgeworfen, den Telegram-Kanal „White Robes“ verwaltet zu haben.
- Politischer Gefangener Aljaksej Aljaksejtschyk — 1 Jahr, 1 Monat und 8 Tage im Gefängnis
Der Mann arbeitete mehr als 20 Jahre als ein Transplantologe am Republikanischen praktisch-wissenschaftlichen Zentrum für Kinderonkologie, Hämatologie und Immunologie. Er hat zahlreiche Knochenmarktransplantationen durchgeführt und gilt als einer der besten Spezialistinnen und Spezialisten des Zentrums. Ihm wurde vorgeworfen, zu Maßnahmen aufgerufen zu haben, die der nationalen Sicherheit der Republik Belarus schaden sollen.
- Politischer Gefangener Artur Chlus — 1 Jahr und 21 Tage in Haft
Artur ist ein Sanitäter der Ambulanzbrigade in Grodno, ein Student der Staatlichen Medizinischen Universität Grodno. Er wurde festgenommen, weil er sich für „Peramoga-Plan“ angemeldet und an Protesten teilgenommen hatte.
- Politischer Gefangener Aljaxandr Zjalega — 2 Jahre, 6 Monate und 9 Tage in Haft
Aljaxandrist ein Neurologe aus Baryssau, der in Norilsk, Russland, arbeitete und im April 2021 im Urlaub nach Hause zurückkehrte.
- Politischer Gefangener Aljaxej Mandzik — 2 Jahre und 4 Tage in Haft
Aljaxej ist ein Mitarbeiter der fünften Stadtpoliklinik, der Leiter der Präventionsabteilung und ein Hausarzt. Er wurde angeblich wegen der Teilnahme an „destruktiven Telegram-Kanälen“ inhaftiert, wo er „destruktive und beleidigende Kommentare“ gegen Polizeibeamte schrieb.
- Natallia Nikitina — ein Jahr und 10 Monate in Haft
Natallia ist eine Kinderärztin, Psychiaterin, Narkologin, Psychotherapeutin, Existenzphilosophin und Psychologin. Am 29. September 2021 wurde die Frau direkt bei der Arbeit im Minsker Zentrum für Kinderpsychiatrie und Psychotherapie festgenommen. Natallia wurde im „Fall Seltzer“ wegen Beleidigung eines Behördenvertreters und Anstiftung zu sozialen Zwietracht verurteilt.