August 2020  — Das Medienprojekt „August2020“ (august2020.info/de) sammelt und veroffentlicht Zeugenaussagen uber Folterungen, Verletzungen und Misshandlungen wahrend der friedlichen Proteste, die nach den Wahlen in Belarus im Jahr 2020 stattfanden.

Folter und Gewalt im Jahr 2020 – die Geschichte von Mascha M.

22 Jahre alt, Journalistin. „Ich wusste nicht einmal, dass es Akreszina gab“

Mascha ist litauische Staatsbürgerin, hat aber fast ihr ganzes Leben, an das sie sich erinnern kann, in Belarus verbracht. Dort war sie auch nach der Präsidentschaftswahl im August 2020. Im Gegensatz zu den anderen Festgenommenen sind ihr Mann, ein Freund und sie selbst fast ohne körperliche Schäden davongekommen, erzählt sie. Aber dann fügt sie hinzu, dass ihr damals zum ersten Mal bewusst wurde, wie leicht es ist, einem Menschen die Freiheit und das Leben zu nehmen. Mascha erinnert sich deutlich an die Angst vor dem Tod, die sie nie zuvor erlebt hatte.

„Bist du etwa Litauerin? Jetzt kommst du für 12 Jahre ins Gefängnis und siehst deine Heimat nie wieder!“

Am 9. August lief es genau wie im Film: Menschenketten, OMON-Polizisten, Granaten, Verfolgungsjagden. Die Hardliner der Opposition in London erzählten uns, dass es zu Verhaftungen kommen könnte [Anm. August2020: Mascha verließ vor ein paar Jahren ihre Universität in Belarus und zog nach London]. Auf eine Freiheitsstrafe war ich vorbereitet, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so viel Gewalt geben würde. Nach so einer Nacht war ich mir nicht sicher, ob ich bereit war, nochmal an Protesten teilzunehmen.

Mir ging es sehr schlecht, also fragte ich meinen Freund Marik (wir waren damals noch nicht verheiratet) um Rat. Wir beschlossen, dass wir hinfahren würden. Solange wir ein Auto hatten, konnten wir die Straßen blockieren. Am Ende war es ein Wunder, dass wir den Puschkin-Platz verlassen konnten. Ich sage hier zwar, wie ein Wunder, aber es ist mir so unangenehm. Am Abend des 10. August konnten wir wieder ins Internet – wir lasen die Nachrichten und weinten leise. Danach dachten wir sehr lange über die Pläne für den 11. August nach. Und da erinnerte ich mich an die Kriegszeiten, damals waren ja einige Mädchen Krankenschwestern. Ich startete einen Aufruf an eine belarussische Diasporagruppe in London, dass wir Wasser und Medikamente kaufen wollen. Die Leute steuerten Geld bei, wir packten 180 Erste-Hilfe-Pakete zusammen: Verbandszeug, Desinfektionsmittel, kleine Zettel dazu, was man zu tun hat und wie. Wir kauften noch 200 kleine Wasserflaschen.

Wir dachten, es wäre eine gute Idee, rote Kreuze auf unsere Autos zu packen, und auf diejenigen von uns, die herumlaufen würden. Einer meiner Freunde und ich fertigten Armbinden aus weißem Verbandszeug und rotem Klebeband an. Die Rundfahrt starteten wir in der Serabranka, wir fuhren bei den Barrikaden vorbei, waren an den Stationen Pjatrouschtschyna und Malinauka, Riga, in der Nähe des Parks Sjaljony Luh, und bei Kamennaja Horka nach dem Gemetzel. Wir dachten, dass der Puschkin-Platz das letzte Ziel sein würde. Wir hatten abgemacht, nicht durch das Zentrum zu fahren. Aber die Njamiha-Straße sah leer und ruhig aus. Ich sagte den Jungs, lasst uns doch die Abkürzung nehmen? Wir nehmen ja nicht am Protest teil, wir sind als Mediziner hier. Ich dachte, man würde sie in Ruhe lassen.

Mich stellte man direkt an die Motorhaube, fast wie in amerikanischen Filmen, die Jungs zum Kofferraum

Den Polizeiwagen sahen wir erst später, aber es waren die OMON-Polizisten, die uns festnahmen. Mich stellte man direkt an die Motorhaube, fast wie in amerikanischen Filmen, die Jungs zum Kofferraum. Alles wurde mit Kameras aufgenommen. Sie holten die restlichen Medikamente raus, die Flagge, Sprühdosen mit Farbe und eine Halloween-Maske. Es stellte sich heraus, dass im Auto noch ein Jagdmesser war. Die Flagge legte man demonstrativ auf die Straße, darauf kam alles, was im Auto gefunden wurde, und dazu die Wasserpistole, die Marik und ich im Angebot gekauft hatten. Ironischerweise war die Pistole weiß und rot. Die gefährlichste Waffe der Welt!

Ich hatte sowohl meinen Pass als auch meine Aufenthaltsgenehmigung für Belarus dabei. Für die letztere hat sich überhaupt niemand interessiert. „Bist du etwa Litauerin? Jetzt kommst du für 12 Jahre ins Gefängnis und siehst deine Heimat nie wieder!“ Schimpfwörter, Drohungen. Man fragte uns, wie viel wir dafür bezahlt wurden, warum ich nicht in „meinem“ Litauen geblieben bin. Obwohl Belarus, Minsk schon immer meine Heimat waren.

In die Richtung der Jungs durfte ich nicht schauen. Irgendwann bekam ich Angst, dass sie mich nicht ohne Grund an die Motorhaube gestellt hatten, dass sie mich vergewaltigen oder mir sonst irgendwas antun würden. Es war klar, dass die Polizisten sehr glücklich über unsere Verhaftung waren, sie jubelten so richtig. Später fanden wir heraus, dass sie für die Verhaftung von Medizinern und Journalisten Boni bekamen. Unsere Erklärungen, dass wir Freiwillige sind, wollten sie nicht hören. „Ihr habt also allen diesen Demonstranten geholfen, diesen Verrätern, ja?“

Sie rauchten viel, redeten schnell und benahmen sich generell wie Hunde beim Anblick von frischem Fleisch. Ich glaube, sie waren zu 100% bekifft. Der Höhepunkt kam, als sie sagten: „Das war’s, lasst uns einpacken“. Sie packten mich an den Armen, brachten mich in den Minibus. Dann brachten sie einen jungen Mann mit krausen Haaren. Und sobald die Tür zu war, begannen sie, die Jungs zusammenzuschlagen. Den Jungen mit den krausen Haaren legten sie, glaube ich, einfach auf den Boden und schlugen ihn mit dem Gummiknüppel, gaben ihm Tritte mit den Füßen. Später im Polizeipräsidium erzählte er, dass einer dieser Bastarde eine Zigarettenkippe auf seinem Knie ausgedrückt hatte.

„Mein erster Gedanke war, dass sie uns in den Wald fahren, wir dann am Ende sind und uns niemand danach findet

Sie konnten lange nicht entscheiden, wohin mit uns. „Lass uns sie ins Polizeipräsidium in Frunse fahren, es gibt sonst nirgendwo Plätze.“ Mein erster Gedanke war, dass sie uns in den Wald fahren, wir dann am Ende sind und uns niemand danach findet. Als zweiten Gedanken entschuldige ich mich im Stillen bei den Jungs dafür, dass ich sie da mit hineingezogen habe. Wir sind später gemeinsam zum Therapeuten gegangen und haben herausgefunden, dass keiner von uns den anderen die Schuld für irgendetwas gibt. Aber vorher hatte ich mir so viele Dinge ausgemalt.

Zuerst wurden alle außer mir geschlagen, aber dann fing der Polizist an, mich am Kopf, am Nacken und am Rücken zu schlagen, und sagte: „Du kommst ja aus Litauen, und in Litauen gibt’s Feminismus – also wirst du wie alle anderen was abbekommen.“ An der Hand, mit der er mich schlug, trug er einen Handschuh, am meisten tat es im Nacken weh. Aber es war der Typ mit den krausen Haaren, der die meiste Aufmerksamkeit bekam – er wurde gnadenlos verprügelt. Der Polizist wurde so richtig wild dabei.

Auf dem Polizeirevier angekommen, hören wir von allen Seiten Schreie: „Schneller! Schneller! Schneller!“ Wir müssen uns beeilen, wir sind spät dran! Jeder bekommt seinen eigenen Begleiter, und ich humple in Sandalen und mit einem bandagierten Fuß herum (nach einer kosmetischen Behandlung kurz vor dem 9. August).

„Na gut, lass dir Zeit“, sagt „mein“ Polizist.

„Was haben Sie gesagt!?“ – ich drehe mich zu ihm mit sooo großen Augen.

„Keine Eile, du hast ja was mit dem Fuß.“

„Danke“, sage ich zu ihm, und denke mir aber dabei, „Was zur Hölle! Eben gerade hat man uns durchgenommen, und jetzt darf ich mir Zeit lassen?!“ Man brachte uns durch den Keller in die Halle und ich war zutiefst erschüttert von dem, was dort vor sich ging. Und einer der Begleiter sagt: „Siehst du den Typ da drüben? Er hat sich vor Angst in die Hose gemacht, dich erwartet das auch.“ Insgesamt waren 100–150 Personen in der Turnhalle.

Man stellte uns auf die Knie, mit dem Kopf auf dem Boden, und fesselte uns mit Handschellen. In der Halle riecht es ekelhaft nach Urin, Schweiß und Blut. Aber der erste Schock kam nicht davon, dass wir geschlagen wurden, sondern von der Art und Weise, wie mit uns gesprochen wurde. Eine Mischung aus Blödsinn und Schimpfworten. Übrigens, als wir ankamen, bekamen mein Freund und ich schwarze Kreuze auf weißen Verbänden. Ich habe nicht darauf geachtet und es erst gesehen, als man uns die Sachen zurückgab. Wir hatten Glück, dass diese Markierung während der Inventur abgeschnitten wurde. Wahrscheinlich wusste damals nicht jeder, was die Markierung bedeutet. Ich kann mir nicht vorstellen, was man uns hätte antun können. (Seit Anfang August wurde bekannt, dass die Gefangenen mit verschiedenen Farben markiert werden. Diejenigen, die mit Schwarz markiert waren, wurden der schlimmsten Folter ausgesetzt. Nach unbestätigten Informationen der zivilgesellschaftlichen Kampagne „Nasch Dom“ könnten solche Häftlinge theoretisch unter anderem umgebracht werden. – Anm. August2020)

„Sie brachten mich in die Nähe des Schießstandes, dort war die Folterkammer“

Es war klar, dass wir nicht so schnell wieder herauskommen würden. Man stellte mich vor einen stämmigen Polizisten mit einer schwarzen Sturmhaube. Und er legte los: „Was gefällt dir denn nicht?“ Ich denke, ich muss mich an dieser Stelle für meine Therapie bedanken, weil ich dank ihr erkannte, dass es sich nicht um ein Verhör, sondern um Druckausübung handelt. – „Ich wollte doch nur helfen!“ – „Wie viel hat man dir gezahlt?“ – „Niemand hat mich bezahlt, ich bin freiwillig dort hin!“ Ich sprach ganz ruhig, obwohl es nicht klar war, wie man mit ihnen sprechen sollte, damit man nichts abbekommt. „Wie alt bist du denn?“ – „21, und Sie?“ – „Ich bin in meinem fünften Jahrzehnt.“ – „Ich bin doch nur eine kleine Pinklerin. Wenn ich so alt bin, wie Sie, dann werde ich es verstehen.“ Und dann ließ er mich in Ruhe. Ich weiß nicht, ob ich ihn dazu brachte, mich zu mögen, aber die anderen Polizisten haben sich über mich lustig gemacht.

Sie brachten mich in die Nähe des Schießstandes, dort war die Folterkammer. Unmenschliche Schreie und Stöhnen. Die Tatsache, dass ein Ermittler mit mir sprach, konnte ich an seinem Notizbuch und der Art und Weise, wie er sprach, erkennen. Ich sitze auf einer Bank, und neben der Wand liegen Jungs in Handschellen, manche in der Schwalben-Position. Man läuft auf ihnen herum, sie werden geschlagen und mit einer Kamera gefilmt. Man verspricht mir, dass mir das Gleiche passieren wird, wenn ich nicht antworte. Der Ermittler fragt, woher denn das Geld für die Medikamente kommt. „Ich habe in London gelebt und es verdient.“ „Du kommst aus Belarus?“ – „Ja.“ – „Aber du hast einen litauischen Pass?“ – „Ja.“ – „Du hast in London gelebt?“ – „Ja.“ Sein Gehirn schien dabei versagt zu haben.

Ich wurde mit einer 360-Grad-Kamera gefilmt und wieder neben dem Schießstand platziert. Und dann sank mein Herz: Marik wurde zum Schießstand geführt und der Freund ans Ende des Korridors. Als eine neue Stimme vom Schießstand zu hören ist, fange ich an zu weinen: Ich war überzeugt, dass es Mariks Stimme war. Ein schreckliches und schmerzhaftes Gefühl. Aber er wurde nur verhört. Ich saß zwei Stunden lang neben dem Schießstand. Diejenigen, die reingingen, wurden an den Armen wieder herausgezerrt. Mir fiel nichts Besseres ein, als allen trotzig in die Gesichter zu starren und zu versuchen, mir die Namen zu merken. Es bestand immer noch die Hoffnung, dass sie mich wegen des litauischen Passes früher rauslassen würden und ich die Misshandlungen melden würde.

„Auch zu dem Zeitpunkt war es beängstigend: Vier Männer und ich waren in der Halle“

Das Auto wurde vom Ermittler Maxim Jewseewitsch durchsucht. Als ich das Durchsuchungsprotokoll unterzeichnete, waren nur vier Polizisten am Schießstand anwesend. Einige rauchten, andere saßen entspannt da – als ob überhaupt nichts geschehen wäre! Auch zu dem Zeitpunkt war es beängstigend: Vier Männer und ich waren in der Halle. Aber anscheinend hatten sie immer noch irgendwelche Prinzipien übrig.

In der Halle sitzen ein paar junge Frauen neben mir, ein junger Mann mit einer komplett gebrochenen Nase, einige liegen. Ich kann meine Jungs nicht finden, aber ich sehe den Rothaarigen [so nannte Mascha den rothaarigen Mann, der sich unter den Festgenommenen befand – Anm. August2020]. Seine Jeans und Unterhosen wurden am Hintern aufgeschnitten und er wurde mit Gummiknüppeln auf den nackten Körper geschlagen. Er konnte sich nicht hinsetzen und musste auf den Knien stehen. Der Ermittler kam mehrere Male auf mich zu und fragte: „Bist du wirklich Maria Matussewitsch?“ Ich war vermutlich aufgrund meiner Staatsangehörigkeit nicht in der Datenbank.

Ich bin selbst zur Inventarisierung der Sachen gegangen. Das wurde von einer Blondine und einer Rothaarigen von der Verkehrspolizei durchgeführt. Seltene Frauen, versteht sich. Im Protokoll schrieben sie, dass sie mir meine Rechte vorgelesen hatten. „Entschuldigen Sie, aber hier ist ein Absatz…Welche Rechte habe ich denn überhaupt?“ – „Unterschreibe jetzt!“ – „Warten Sie doch bitte…“ Aber sie beharren darauf –unterschreibe jetzt! – und dann rufen sie einen Polizisten. War ja klar. Ich hatte das Handy des Freundes. Der Freund wurde in der Menschenmenge gefunden und gezwungen, das Handy zu entsperren. Dann konnten sie den Nachrichtenverlauf über die Ereignisse an der Stele am 9. August lesen. Vor meinen Augen zwang der Polizist den Freund in die Knie und begann, ihn mit seinem Knüppel zu schlagen. Von uns dreien hat er am meisten abbekommen.

Nach einiger Zeit kam ich mit Leutnant Andrij Chwoinizki ins Gespräch. Er fragte mich, warum ich mich als so eine junge Frau dorthin begeben hatte. Und ich konnte es mir nicht verkneifen und fragte ihn, ob ihn seine Arbeit berauscht. „Wir bekommen unser Geld, und wer an der Macht ist, ist uns egal“. Er war 21 Jahre alt. Er tat uns gar nichts an, ganz im Gegenteil, er brachte uns zur Toilette, gab uns Wasser und nahm mir die Handschellen ab. Aber! Er selbst war Zeuge dieser Gesetzlosigkeit.

Ich fragte den Rothaarigen, warum man ihn so behandelt hat. Es war wohl wegen seinem Handy-Hintergrundbild mit der weiß-rot-weißen Flagge. Wir flüsterten uns gegenseitig zu, und da kam ein Polizist angelaufen: „Was flüstert ihr da?!“ Meine Reaktion auf den Stress: „Ich sage nur, dass ich gerne einen Kaffee oder eine Zigarette hätte“ Was er darauf antwortete, weiß ich nicht mehr, aber ich durfte mich zu meinen Jungs setzen.

„Sie zerschlug acht Handys. Das tat sie auf die perverseste und demonstrativste Art und Weise: gegen die Wand, dann legte sie sie auf den Boden und schlug mit einem Knüppel zu“

Irgendein Mistkerl entdeckte, dass ich keine Handschellen trug. Durch den Druck wurden meine Hände sehr schnell blau. Man begann damit, die Protokolle zu unterschreiben. Wer nicht zustimmte, wurde geschlagen. Dann kommt der Schichtwechsel. Und da stürmt eine Polizistin herein, diese berüchtigte Karina oder Kristina. [Die Festgenommenen, die im Frunze-Polizeipräsidium festgehalten wurden, berichteten über die „Polizistin namens Kristina“, die in der Sporthalle Menschen verprügelte. Einige der Häftlinge sagten hingegen, dass die Polizistin Karina hieß. — Anm. August2020]

Sie befahl allen, aufzustehen und sich hinzustellen. Wer keine Handschellen trug, bekam welche. Es war morgens, die Handywecker fingen an, zu klingeln. Sie zerschlug acht Handys. Das tat sie auf die perverseste und demonstrativste Art und Weise: gegen die Wand, dann legte sie sie auf den Boden und schlug mit einem Knüppel zu. Dann gab es noch eine „nette Geste“: Die Frauen durften sich zuerst neben der Wand setzen, aber später forderte sie uns auf, uns hinzustellen, mit dem Gesicht zur Wand.

Ich war fast schon ohnmächtig und fragte nach Wasser. Karina-Kristina verließ den Raum und kam mit zwei Verbänden wieder, die in Ammoniak getränkt waren, und steckte sie mir in die Nase. Es hat nur ein paar Sekunden gedauert, aber die Ladung an „Munterkeit und Energie“ war krass. Es tat weh, war unangenehm, aber ich kam wieder zu mir.

Man fing an, uns vom Ort zum Ort zu jagen und zum Weitertransport vorzubereiten. Irgendwann stürmte ein Polizist in die Sporthalle, mit aufgerissenen Augen, einigen Bananen und Energydrinks. Das bot er den Mädels an. Ich trank ein paar Schlücke vom Energydrink. Als noch um die 15 Menschen geblieben waren, konnten die Polizisten lange nicht entscheiden, was sie mit mir tun sollten. In dem Moment wurde ich ganz dreist: Ich trat mit den Beinen um mich herum, rüttelte an den Handschellen und wollte auf die Toilette. Der Polizist, der mich begleitete, nahm mir die Handschellen ab und sagte: „Geh mal und wasch dir das Gesicht, lauf ein bisschen rum und streck die Beine aus“. Wow! Ich wollte mir die Haare zusammenbinden, aber das einzige, was sie bei der Durchsuchung nicht gefunden haben, war ein weißes Silikonarmband. Der Polizist sah es und meinte, wenn sie das sehen, würden sie mich umbringen.

„Die Jungs und Männer sangen die belarusische Nationalhymne und man verprügelte sie“

Im Polizeitransporter steckte man mich in den „Becher“ [enge Isolationskammer im Transporter – Anm. d. Übers.]. Dort gab es eine kleine Sitzbank, auf der ich auf dem Weg nach Akreszina geschlafen habe. Als man das Klatschen hörte, war es klar, dass wir in der Stadt waren. Ich wusste nicht einmal, dass es Akreszina gab. Es kamen immer mehr Leute, man fing an, sie auf die Wiese zu legen, und die Frauen durften in einem einzigen Haufen stehen.

Um uns herum waren Polizisten, Spezialeinheiten und vermutlich Militärleute in grünen und sandfarbenen Tarnuniformen. Ich bin stolz auf die Mädels, immer wieder verlangten, rausgelassen zu werden, und sich beschwerten, dass ihnen kalt war. Die Polizisten befahlen ihnen, in die Hocke zu gehen, und machten anstößige Witze. Ich weiß nicht mehr, was eine von ihnen darauf antwortete, aber ich dachte in dem Moment so: „Verdammt, was für eine Gute bist du denn!“

Wir standen gefühlt ewig dort. Dann brachten die Männer in sandfarbenen Uniformen ein Zelt. Die Polizisten und Spezialeinheiten sagten nichts. Anscheinend hatte dort das Militär das Sagen. Die Mädels und ich scharten uns wie Rebhühner zusammen und versuchten, uns warmzuhalten.

Als es dunkel wurde, ging es wieder los mit den Umzügen. Man drängte uns ins Gebäude, stellte uns an eine Wand und befahl uns, uns nackt auszuziehen und in die Hocke zu gehen. Wir dachten, dass es im Gebäude warm sein würde, aber man führte uns, 35 junge Frauen, in eine betonierte, begehbare Kammer unter freiem Himmel. Man beschloss, dass diejenigen, die wärmer angezogen waren, sich an die Wand legen sollten. Wir zogen die Einlegesohlen heraus, steckten sie unter den Hintern, gruppierten uns zusammen und legten uns hin. Ich ließ mir all die guten Positionen entgehen und lag neben der Wand. Im T-Shirt, Jeans und Sandalen war es kalt. Einige weinten, andere machten irgendwelche Sportübungen, während ich einschlief.

„Eigentlich wäre das noch okay gewesen, aber da war eine Frau, die sich in der Zelle ausnüchterte, dann halluzinierte und mit dem Kopf gegen die Wand schlug“

Die wildesten Schreie weckten mich wieder auf. Die Jungs und Männer sangen die belarusische Nationalhymne und man verprügelte sie. Es war absolut unerträglich, sich das anzuhören. Ich war nicht alleine, viele Frauen wurden mit Freunden oder Partnern gefasst. Also weinten wir einfach still vor uns hin. Schreie und Rufe wie „Ich liebe die Ordnungshüter“ hörten fast nicht mehr auf, ständig wurden neue Leute eingeliefert.

Nach der Zuweisung kam ich in eine Zelle, in der bereits rund 30-40 Personen saßen. Eigentlich wäre das noch okay gewesen, aber da war eine Frau, die sich in der Zelle ausnüchterte, dann halluzinierte und mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Das Einzige, was die Polizisten in dieser Zeit machten, war, Verbandszeug in die Zelle zu werfen. Wir schrien laut durch die Tür, dass man einen Krankenwagen für sie rufen sollte. Man drohte damit, dass man uns im Kreis laufen lassen und Wasser in die Zelle gießen würde, wenn wir nicht den Mund halten. Es war heiß. Aber nach dem Aufenthalt draußen genoss ich es sogar. Die Frauen, die dort seit dem 9. August festgehalten wurden, berichteten, dass sie nur einen Laib Brot bekommen hatten. Mit dem Wasser war es ähnlich. Aber an Schreien und Prügelgeräuschen gab es mehr als genug.

Neben dem Nachtschrank lag ein dünner grauer Teppich. Ich rollte mich darauf zusammen und schlief ein. Eine Stunde später hörte ich meinen Nachnamen. Eine junge Frau namens Lisa und ich mussten lange warten und wurden über mehrere Stockwerke hin- und hergeschleppt. Alles war unklar, wir hatten Angst. Es herrschte ein großes Chaos, niemand wusste, wie viele Leute da waren und wo sie waren. Durch eine der offenen Türen konnte ich sehen, dass die Jungs nur in ihren Unterhosen in der Zelle saßen. [Möglicherweise handelte es sich um die „Beach Boys“-Zelle, über die Wjatschka Krasulin berichtet hat — Anm. August2020]

Man führt uns hinaus und verbietet uns, uns umzusehen. Aber ich kann ja trotzdem alles sehen, wie die Menschen neben den Mauern stehen und liegen, die Blutpfützen. Wir kommen heraus, und ich verstehe nicht, wo wir sind. Auf uns kommt ein Soldat zugelaufen und sagt, dass wir uns in Akreszina in der Nähe der Metrostation Michalowa befinden, und dass da in der Richtung Freiwillige sind. Aber er rät davon ab, dorthin zu gehen. „Was?! Nicht zu den Freiwilligen gehen? Was ist denn da das Problem?“

„Ich war in meine Decke eingewickelt und hatte keine Kraft, also fiel ich einfach ins Gebüsch“

Die Freiwilligen geben mir eine Decke, ich frage nach einem Handy und fange an, auf Instagram an alle zu schreiben, deren Nutzernamen ich noch im Kopf habe. Es ist 4 Uhr morgens, also antwortet natürlich niemand. Ich will eine rauchen. Aber zu Ende konnte ich die Zigarette nicht rauchen – plötzlich rannten alle, irgendein Typ schrie „Polizei“. Heute bin ich mir nicht sicher, dass es die Spezialeinheiten waren. Ich kenne niemanden, der dort zur gleichen Zeit war und es bestätigen könnte. Aber die Leute rannten.

Ich war in meine Decke eingewickelt und hatte keine Kraft, also fiel ich einfach ins Gebüsch. Ich atmete kaum, und an mir liefen immer wieder Leute vorbei. In einem Moment der Ruhe wird mir klar, dass die Büsche nur begrenzt Schutz bieten, ich sollte es zumindest bis zur Straße schaffen. Die Decke ballte ich zusammen, damit es nicht so aussehen würde, als ob ich zu „denen“ gehöre. Ich laufe vor mir hin und sehe dann zwei Spezialkräfte in voller Montur, so 20 Meter entfernt. Nicht gucken, nicht gucken! Ich hatte so viel Panik und Angst, dass ich mich in einer Biotoilette versteckte. Gut, dass ich die Decke dabei hatte – irgendwie konnte ich mich hinsetzen. Dort verbrachte ich um die 2 Stunden. Ich beschloss, erst herauszukommen, wenn ich Geräusche von der Straßenseite hörte.

Nach einer Weile hörte ich einen Typen am Handy sagen, dass er zu den Freiwilligen gehen würde. Er wollte offenbar auf dem Weg zur Toilette gehen, zieht an der Klinke, und da stürze ich heraus. „Bring mich zur Straße, ich wohne nicht weit von hier, bring mich einfach hin!“ Ich war in einem maximal hysterischen Zustand. Er brachte mich zu den Freiwilligen.

Die einzige Adresse, ich die im Kopf hatte, war die von einer Freundin. Meine Freunde begrüßten mich unter Tränen. Es wurde klar, dass sie bereits von der Festnahme wussten und nach uns gesucht hatten. Ich konnte nichts erzählen. Es fühlte sich so an, als ob es nicht mit mir passiert wäre, als ob ich lügen und Dinge erfinden würde. Ein ganz seltsames Gefühl.

Die Jungs wurden am nächsten Tag, dem 14. August, freigelassen, sie waren in Sluzk. Ich lief ihnen in meiner Pyjamahose entgegen, weil ich mich so beeilen wollte und einfach so aus dem Haus kam.

P. S. Im November fand Masha heraus, dass ein Verfahren zur Annullierung ihrer Aufenthaltsgenehmigung in Belarus eingeleitet wurde. Ihr Anwalt berichtete später, dass sie zu einer Geldstrafe von 20 Basissätzen verurteilt wurde, dass ihr die Aufenthaltsgenehmigung entzogen und ein fünfjähriges Einreiseverbot erteilt wurde. Aber es gibt auch etwas Positives an dieser Geschichte. Nachdem er freigelassen wurde, gestand Marik Mascha gegenüber, dass ihm in Akreszina klar wurde – als er mit dem Gesicht auf dem Boden lag – dass Mascha die Eine für ihn war. Die beiden feierten ihre Hochzeit unter einer weiß-rot-weißen Flagge, die ihnen ein gemeinsamer Freund geschenkt hatte.

Autor: August2020 Projektteam

Foto: August2020 Projektteam

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